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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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verschollen in Sibirien, gute und großmütige Seele, ewiger Träumer und frommer Mann«, sowie eine Jahreszahl: »1922«.
    »Das ist mein Großvater, er war Sibirer ... Kann ich der sibirischen Familie beitreten, wenn mein Großvater einer von euch war?« Er wirkte sehr ernst, und in der Frage lag nicht der Hauch von Eitelkeit oder irgendeiner anderen schlechten Regung. Es war einfach ein Hilferuf: Schura hielt es wohl nicht mehr aus, allein zu sein.
    Wir antworteten, dass wir das Foto untersuchen lassen und im Haus herumfragen würden, um festzustellen, ob einer von den Alten sich an ihn erinnerte.
    Wir schickten das Foto nirgendwo hin, wir fragten niemanden, seinerzeit waren in Sibirien unzählige Leben in einem großen Strudel menschlicher Schicksale verlorengegangen. Wir beschlossen, etwas Zeit vergehen zu lassen und den Riesen dann in unsere Familie aufzunehmen: Er war ein ruhiger Typ, er hatte bereits zwei Jahre abgesessen, ohne Schwierigkeiten zu machen, und wir sahen keinen Grund, warum wir es einem menschlichen Wesen verwehren sollten, in den Genuss von guter Gesellschaft und Brüderlichkeit zu kommen, er hatte sie verdient – auch wenn seine sibirischen Wurzeln nur durch ein altes Foto belegt wurden.
    Nach einer Woche sagten wir ihm, dass er der Familie beitreten könne, sofern er verspreche, unsere Regeln und Gesetze zu respektieren. Das Foto gaben wir ihm zurück mit den Worten, leider habe niemand seinen Großvater wiedererkannt. Er dachte eine Weile darüber nach, danngestand er mit zittriger Stimme, dass das Foto gar nicht ihm gehöre: Er habe es von seiner Schwester, die im historischen Archiv irgendeiner Universität arbeitete. Er bat uns um Entschuldigung, weil er uns getäuscht hatte, sagte, dass wir und unsere Art ihm gefielen und er deshalb so großen Wert darauf gelegt hatte, unserer Familie beizutreten. Er tat mir leid, ich begriff, dass er nicht nur sehr einfach gestrickt und wenig verschlagen war, sondern auch ein gutes Herz hatte, er war in keinster Weise bösartig. Solche wie er waren im Gefängnis gewöhnlich nach ein paar Monaten tot; wer mehr Glück hatte, diente einem der erfahreneren Kriminellen aus irgendeiner Kaste als Laufbursche.
    Wir hatten Mitleid mit ihm. Wir verziehen ihm, weil er seinen Fehler eingestanden hatte, und erlaubten ihm, mit uns zu leben, in der Familie, obwohl er kein echter Sibirer war. »Schura ist jetzt einer von uns«, verkündeten wir noch am selben Abend, und alle in der Zelle waren sehr überrascht.
    In kürzester Zeit lernte er unsere Regeln, ich erklärte ihm alles wie einem Kind, und er entdeckte sie wie ein Kind, ohne sein Erstaunen zu verbergen.
    Als für mich der Tag der Entlassung kam, verabschiedete er sich herzlich von mir und sagte, ohne die Geschichte mit der Tätowierung hätte er sich nie durchgerungen, sich den Sibirern anzuschließen, und hätte nie unsere Regeln kennengelernt, die er recht und ehrbar fand.
    Vielleicht, dachte ich, hat mein bescheidenes Handwerk ihm das Leben gerettet, ohne die Familie im Gefängnis wäre er bei irgendeiner Auseinandersetzung getötet worden.

    Das Tätowieren war für mich eine äußerst ernste Sache. Für viele meiner Freunde war es nur ein Spiel, sie gabensich mit irgendwelchem Gekritzel auf der Haut zufrieden. Andere nahmen die Sache zwar ernster, aber doch nicht allzu sehr.
    Unter uns Heranwachsenden redeten wir so darüber:
    »... Dafür hat mein Vater eine große Eule, die einen Totenkopf in den Krallen hält ...«
    »Eule bedeutet Räuber, sage ich dir ...«
    »Und der Totenkopf?«
    »Kommt darauf an.«
    »Ich weiß es, Leute: Eule mit Totenkopf bedeutet Räuber und Mörder, ich schwör’s!«
    »Erzähl keinen Stuss! Räuber und Mörder ist ein Tigergesicht mit Eichenlaub, mein Onkel hat so eins!«
    Sie rieten einfach wild drauflos.
    Für mich dagegen war es etwas anderes, viel komplexer. Ich mochte Dinge, die eine Spur der Hand zurücklassen, die sie ausgeführt hat. Deshalb bat ich meinen Vater, meine Onkel und ihre Freunde, mir von den Tätowierern zu erzählen, die sie kennengelernt hatten. Ich betrachtete ihre Tätowierungen und versuchte, herauszufinden, welche Techniken sie angewandt hatten, um diesen oder jenen Effekt zu erzielen. Ich sprach darüber mit meinem Meister, und Großvater Lescha half mir, die Techniken der anderen besser zu verstehen, er brachte mir bei, wie ich sie auf meine Art, die Dinge zu sehen, zu zeichnen und auf die Haut zu tätowieren, übertragen konnte.
    Er war froh,

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