Sibirische Erziehung
mächtig stolz auf dieses Geschenk, wenn er sich die Mütze aufsetzte, wurde er sofort ernst und begann mit uns zu reden wie ein Schaffner zu den Reisenden: »Werte Genossen« oder »Bürger, ich bitte um eure Aufmerksamkeit« – diese Verwandlung war zu ulkig.
Mein Vater schenkte ihm ein T-Shirt, das er vonirgendwem geschenkt bekommen hatte, als er mal ein paar Jahre in Deutschland einsaß. Es stammte von irgendeiner humanitären Organisation, als Motiv waren zwei Tauben abgebildet: Hinter einer sah man die ostdeutsche Fahne, hinter der anderen die sowjetische, sowie in beiden Sprachen die Aufschrift »Friede, Freundschaft, Zusammenarbeit«. Boris hatte eine halbe Stunde nur dagestanden und auf das T-Shirt in seiner Hand gestarrt. Er war schockiert wegen der Farben, denn bei uns gab es damals keine bunten Kleidungsstücke, alles war mehr oder weniger grau, nach sowjetischer Mode. Aber dieses Kleidungsstück leuchtete farbenfroh, und es wurde sofort Boris’ Lieblingsklamotte. Oft lief er mit dem T-Shirt herum, blieb manchmal abrupt stehen, zog es mit den Händen hoch und betrachtete die Zeichnung, wobei er lächelte und vor sich hin flüsterte.
Boris war ein gesprächiger Typ, keineswegs schüchtern, selbst mit Unbekannten konnte er sich stundenlang unterhalten. Er war direkt, er sagte stets, was er dachte. Wenn er sich unterhielt, sah er einem immer in die Augen, und sein Blick war intensiv und zugleich entspannt, nie angespannt. Er konnte lesen, das hatte ihm die Witwe Nina beigebracht, eine Frau, die allein lebte und die wir Kinder oft besuchten. Wir halfen ihr bei den schweren Arbeiten im Garten, und sie gab uns etwas Leckeres zu essen. Sie hatte als Lehrerin russische Sprache und Literatur unterrichtet, sie war eine gebildete Frau. Weil es ihr Spaß machte, hatte sie Boris mit Erlaubnis von Tante Tatjana Lesen und Schreiben beigebracht, so dass er seiner Mutter jeden Abend eine Passage aus einem Buch vorlesen konnte.
Boris hatte einen treuen Gefährten, eine Katze namens Barsitsch, die ihm folgte wie ein Hund. Das war vielleicht ein Paar! Wie zwei Comicfiguren.1992 gab es in Transnistrien einen Krieg. Nach dem Fall der Sowjetunion blieb Transnistrien außerhalb der Russischen Föderation und gehörte nirgendwo mehr dazu. Die Nachbarländer Moldawien und Ukraine machten Ansprüche geltend. Die Ukrainer hatten schon genug eigene Schwierigkeiten wegen des hohen Grads an Korruption in Regierung und Verwaltung, doch die Moldawier schlossen trotz der desaströsen Lage im Land – absolute Armut, wenn nicht gar Verelendung der vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung – ein Bündnis mit den Rumänen und versuchten gewaltsam das transnistrische Territorium zu besetzen. Transnistrien sollte in besonderer Weise geteilt werden: Die moldawische Regierung sollte das Territorium kontrollieren, während rumänische Industrielle die Leitung der zahlreichen Rüstungsbetriebe übernehmen sollten, die von den Russen zu Zeiten der Sowjetunion errichtet und mittlerweile vollständig von Kriminellen übernommen worden waren, die Transnistrien in einen regelrechten Supermarkt für Waffen verwandelt hatten.
Ohne Vorwarnung schritten die Moldawier zur Tat: Ihre Panzer drangen in die Städte Bender und Dubaschari ein, die am rechten Ufer des Dnjester liegen, an der Grenze zu Moldawien. Am 22. Juni drang eine Division moldawischer Panzer in Bender, das heißt in unsere Stadt ein, als Geleitschutz für zehn Armeebrigaden, darunter eine der Infanterie, eine der Spezialinfanterie und zwei Gruppen rumänischer Soldaten. Die Einwohner von Bender bildeten Verteidigungstrupps, Waffen hatten sie ja genug. Es kam zu einem kurzen, dafür umso blutigeren Krieg, der einen Sommer andauerte und damit endete, dass die transnistrischen Kriminellen die Moldawier aus ihrem Land warfen. Anschließend begannen sie, moldawisches Territorium zu besetzen. Daraufhin bat die Ukraine, die Angst hatte, die siegreichen Kriminellen könnten auch inihr Land Unruhe tragen, Russland, zu intervenieren. Russland, das die Bewohner Transnistriens als seine Staatsbürger betrachtete, erschien mit einer Armee, um den »Friedensprozess zu begleiten«. Es installierte ein Militärregime, verstärkte die Polizeiposten, erklärte Transnistrien zum »Gefahrengebiet«. Das russische Militär verhängte eine Ausgangssperre von acht Uhr abends bis sieben Uhr morgens und patrouillierte mit Panzerwagen durch die Straßen. Viele Leute verschwanden spurlos, im Fluss trieben Leichen
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