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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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denn er sah, dass die Motive mich auch wegen ihres künstlerischen Werts interessierten und nicht nur weil sie mit der Verbrechertradition zusammenhingen.
    Bereits in der Phase des Studiums der Zeichnungen begann ich mich und auch Großvater Lescha zu fragen, weshalb nicht jede Tätowierung, ob klein oder groß, ausschließlich als Kunstwerk betrachtet werden konnte. Diewahre Kunst, antwortete mein Meister, ist eine Form des Protests, und deshalb muss jedes wahre Kunstwerk Widerspruch auslösen, Anlass zu Diskussionen sein. Nach seiner Philosophie war die kriminelle Tätowierung die reinste Kunstform der Welt. Die Leute, sagte er, hassen die Kriminellen, aber sie lieben ihre Tätowierungen.
    Ich erwiderte, dass man vielleicht einen Zusammenhang zwischen künstlerischer Qualität und tieferer Bedeutung, also der Philosophie der sibirischen Tradition, herstellen könnte. Er antwortete mit großer Gewissheit:
    »Sollte es je so weit kommen, dass jeder Dahergelaufene sich unsere traditionellen Symbole tätowieren lassen will, dann wirst du recht haben ... Aber ich glaube nicht, dass das je passiert, denn die Leute hassen uns und alles, was mit unserem Leben zusammenhängt.«
    1 Kolschik, das heißt »Einer, der sticht«, ist in der Verbrechersprache das Wort für Tätowierer.
    2 Trotz ihrer Namen zeigen derartige Tätowierungen nicht etwa Spielkartenfarben oder Flügel, sondern verweisen auf persönliche Dinge, auf Gelübde oder Liebesbande des Verbrechers.

Boris der Lokführer

    M itte der fünfziger Jahre verbot die sowjetische Regierung plötzlich, Geisteskranke bei sich zu Hause zu behalten, und zwang die Verwandten, sie in Spezialkliniken unterzubringen. Dies veranlasste viele Eltern, die sich nicht von ihren Kindern trennen wollten, an Orte zu ziehen, wohin der Arm des Gesetzes nicht reichte. Auf diese Weise füllte sich Transnistrien innerhalb von zehn Jahren mit Familien aus allen Teilen der Sowjetunion, die wussten, dass in der sibirischen Verbrechertradition Geisteskranke oder Krüppel willkommen waren. Sie wurden »Gottgewollte« genannt und galten als Heilige, als Boten Gottes.
    Ich bin unter lauter Gottgewollten aufgewachsen, viele wurden meine Freunde: Sie erschienen mir nicht nur normal, für mich waren sie normal, wie alle anderen.
    Sie können nicht hassen, sie können nur lieben und sie selbst sein, und wenn sie einmal gewalttätig werden, so speist sich diese Gewalt nie aus der Kraft des Hasses; sie sind wie kleine Kinder, nur dass die Kinder wachsen und als Erwachsene oft ziemliche Arschlöcher werden, während das bei den Geisteskranken nie passiert.

    Boris war in Sibirien geboren und lebte zusammen mit seiner Mutter, Tante Tatjana, bei uns im Viertel. Er war ein normales Kind, bis eines Nachts die Köter zu ihnen nach Hause kamen: Der Vater war ein Krimineller und hatte einen Werttransport überfallen und eine Menge Diamanten geraubt. Die Köter wollten wissen, wo er die Diamanten versteckt hatte und wer noch bei dem Überfall mitgemacht hatte, aber der Mann redete nicht, und da nahmen sie den kleinen Boris, der damals sechs Jahre altwar, und schlugen ihm mit dem Gewehrkolben auf den Kopf, damit sein Vater redete. Der Vater redete nicht, und schließlich erschossen sie ihn.
    Boris, der ein schweres Trauma erlitten hatte, wuchs geistig nicht mehr, er blieb auf dem Stand eines Sechsjährigen.
    Die Mutter zog mit ihm nach Transnistrien. Wir waren Nachbarn, Boris war ständig bei uns. Mein Großvater hatte ihn ins Herz geschlossen, und ich auch. Wir ließen zusammen Tauben fliegen, gingen zum Fluss, stahlen Äpfel in den Gärten der Moldawier, fischten in den Sommernächten mit Netz ...
    Boris hatte eine fixe Idee, er glaubte, er wäre ein Lokführer. In der Stadt, weit weg von unserer Gegend, in der Nähe der Eisenbahn, stand auf einem abgetrennten Stück Gleis ein alter Dampfzug, als Denkmal. Boris stieg hinauf und tat so, als wäre er der Oberlokführer. Er spielte. Wir gingen mit, stellten uns alle ins Führerhaus, und er wurde sauer, wenn wir mit Schuhen hereinkamen, denn in seinem Zug ging Boris nur barfuß, er hatte sogar einen Besen, um alles sauberzumachen, und benahm sich dort wie zu Hause.
    Die Leute vom Bahnhof mochten ihn, sie hatten ihm eine Lokführermütze geschenkt, die denen von Marineoffizieren ähnelte, oben weiß, mit grünem Rand und schwarzem Plastikschirm. Sie hatte sogar das Eisenbahnerwappen, das dermaßen in der Sonne blinkte, dass man es schon von weitem sah. Boris war

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