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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zurückging,des Volks der Efeer. Mündlich überbrachte Botschaften waren immer kurz und konkret, sie wurden im Alltag verwendet, für die einfachen Dinge.
    Wenn mein Vater mich rief, damit ich eine mündliche Botschaft überbrachte, sagte er: »Komm her, ich hab einen Luftzug für dich.« Dann nannte er mir den Inhalt, zum Beispiel: »Geh zu Onkel Wenja und sag ihm, dass bei uns der Staub eine Spanne hoch liegt«, was eine Aufforderung war, gleich herzukommen, um eine wichtige Sache zu besprechen. Ich musste sofort losradeln, Onkel Wenja anständig Guten Tag sagen und, wie es sibirischer Brauch war, ein paar Floskeln aufsagen, die nichts mit der Botschaft zu tun hatten, zum Beispiel mich nach seiner Gesundheit erkundigen. Erst dann durfte ich zur Sache kommen: »Ich habe einen Luftzug von meinem Vater für euch.« Danach musste ich warten, bis er mir – natürlich nicht direkt als Aufforderung – die Erlaubnis gab zu sprechen. Bescheiden, um ja nicht anmaßend zu erscheinen, antwortete er mir: »Nun denn, Gott segne dich, mein Sohn«, oder »Der Geist Jesu Christi sei mit dir«, wodurch er mir mitteilte, dass er nun bereit war, mich anzuhören. Ich sagte die Botschaft auf und wartete auf die Antwort. Ich durfte unter keinen Umständen ohne Antwort weggehen, deshalb musste Onkel Wenja oder wer auch immer sich irgendwas ausdenken, selbst wenn er nichts zu sagen hatte. »Sag deinem Vater, ich werde die Absätze wetzen, und nun geh mit Gott«. Das bedeutete, dass er die Einladung annahm und so bald wie möglich vorbeikommen würde. Wollte er nichts Konkretes erwidern, dann sagte er: »Ein guter Luftzug ist für mich wie Musik für die Seele. Geh nach Hause mit Gott, möge Er eurer Familie Gesundheit und ein langes Leben schenken.« Dann entbot auch ich die rituellen Wünsche und raste so schnell wie möglich nach Hause zurück. Je schneller ich war, destohöher wurde ich als Bote geschätzt und desto besser wurde ich entlohnt. Manchmal bekam ich sogar einen 25-Rubel-Schein (ein Fahrrad kostete damals fünfzig Rubel), manchmal eine Süßigkeit oder eine Flasche süßen Sprudel.
    Auch wenn Briefe zu übergeben waren, hatten wir unsere kleine Rolle.
    Es gab drei Arten von Briefen: die Ksiwa (was in der Verbrechersprache »Dokument« bedeutet), die Maljawa (Kleine) und die Rospika (Unterschrift).
    Die Ksiwa war ein langer Brief in Verbrechersprache mit wichtigem Inhalt. Er wurde nur selten geschrieben und nur von geachteten alten Kriminellen, vor allem wenn sie Befehle ins Gefängnis schaffen, Einfluss auf die Leitung der Knäste nehmen, Aufstände anzetteln oder eine brenzlige Situation auf eine bestimmte Weise lösen wollten. Ein solcher Brief wanderte von Hand zu Hand, von Knast zu Knast, und wegen seiner besonderen Bedeutung wurde er niemals irgendeinem dahergelaufenen Boten anvertraut, sondern nur Menschen aus der unmittelbaren Umgebung der Verbrecherautoritäten. Derartige Briefe haben wir Halbwüchsige nie überbracht.
    Die Maljawa hingegen war der Standardbrief, den fast immer wir überbrachten, und zwar in beide Richtungen. Normalerweise wurde er aus dem Knast geschickt, wenn man an den Kontrollen des Gefängnisapparats vorbei mit der Verbrecherwelt draußen kommunizieren wollte. Es handelte sich um kurze, knapp gehaltene Briefe in Verbrechersprache. An einem bestimmten Tag, nämlich jeden zweiten Dienstag im Monat, trieben wir uns vor dem Gefängnis in Tiraspol herum. An diesem Tag »zündeten« die Gefangenen »das Feuerwerk«, das heißt, sie schossen mit Hilfe der Gummizüge ihrer Unterhosen wie mit einer Schleuder ihre Briefe über die Gefängnismauer, und wir sammelten sie ein. Jeder Brief trug eine verschlüsselte Anschrift, ein Wort oder eine Zahl.
    Solche Briefe schrieben praktisch alle Gefangenen und ließen sie über die »Straße« des Gefängnisses zustellen, jenes System der Kommunikation von Zelle zu Zelle, das ich bereits erwähnt habe: Über Schnüre, die nachts von einem Fenster zum anderen gespannt wurden, wurden »die Pferde geschickt«: Päckchen, Botschaften, Briefe und so weiter. Die Briefe wurden dann von einer Gruppe gesammelt, deren Zellen sich in den Blöcken nahe der Mauer befanden, wo die Fenster nicht mit Blechen abgeschirmt waren, sondern nur die klassischen Gitterstäbe hatten. Von dort schossen die »Raketenwerfer« die Briefe einen nach dem anderen über die Mauer. Sie wurden dafür von der Verbrechergemeinschaft bezahlt und hatten keine andere Aufgabe im Gefängnis, den ganzen

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