Sibirische Erziehung
hingegen durften alle mitreden, auch die Frauen, die Halbwüchsigen, die Behinderten und die Alten.
Der Unterschied zwischen der Erziehung, die wir genossen hatten, und der Erziehung (oder Nicht-Erziehung) der Mitglieder der anderen Gemeinschaften schuf eine Leere, eine riesige Distanz zwischen uns. Auch wenn es uns nicht bewusst war: Wir verspürten deshalb das Bedürfnis, unseren Prinzipien und Gesetzen Geltung zu verschaffen und die anderen zu zwingen, sie anzuerkennen, manchmal auch mit Gewalt.
In der Stadt machten wir dauernd Stress, und wenn wir in ein anderes Viertel gingen, endete es häufig in einer Schlägerei: Blut auf dem Boden, Prügel, Messerstiche. Wir hatten einen schrecklichen Ruf, alle hatten Angst vor uns, und oft wurden wir genau aus dieser Angst heraus angegriffen, weil sich immer jemand fand, der gegen seine natürlichen Instinkte handeln, das Schicksal herausfordern und die eigene Angst überwinden wollte, indem er sich auf die Ursache dieses Gefühls stürzte.
Nicht immer kam es zur Schlägerei, manchmal gelang es uns auf diplomatischem Weg, die Leute von ihrem Vorhaben abzubringen, dann flogen höchstens ein paar Ohrfeigen hin und her, und man begann zu reden. Es war schön, wenn es so ausging. Aber meist endete es blutig und mit reihenweise ruinierten Beziehungen zu einem ganzen Stadtviertel, Beziehungen, die, einmal tot, nur schwer wiederzubeleben waren.
Unsere Alten hatten uns gut erzogen. Ganz zuoberst stand der Respekt vor allen Lebewesen, eine Kategorie, zu der Polizisten, Leute, die mit der Regierung zu tun hatten, Bänker, Wucherer und alle, die Geld und damit Macht in Händen hielten und die einfachen Leute ausbeuteten, nicht zählten.
Sodann musste man an Gott und Seinen Sohn Jesus Christus glauben und andere Arten, an Gott zu glauben, die sich von unserer unterschieden, respektieren. Kirche und Religion wurden jedoch nie als Institution aufgefasst. Mein Großvater sagte, Gott habe nicht Priester geschaffen, sondern freie Menschen und sonst nichts, wobei es aber durchaus auch gute Priester gab: In diesem Fall war es keine Sünde, an die Orte zu gehen, wo sie ihre Aktivitäten entfalteten, während es sehr wohl eine Sünde war zu denken, dass die Priester vor Gott mehr zu sagen hätten als andere Menschen.
Schließlich durften wir den anderen nicht das zufügen, was wir selbst nicht zugefügt bekommen wollten: Sollten wir trotzdem einmal genötigt sein, es zu tun, so brauchte es dafür einen guten Grund.
Einer der Alten, mit denen ich viel über diese Dinge sprach, also über unsere Lebensphilosophie und unsere ursprüngliche Unwissenheit, sagte, unsere Welt sei vollerMenschen, die Irrwegen folgten, und wenn man einmal einen falschen Schritt getan habe, entferne man sich immer mehr vom rechten Weg. Er war der Auffassung, dass es meist sinnlos war zu versuchen, sie auf den rechten Weg zurückzuholen, weil sie sich schon zu weit entfernt hatten, und daher blieb nur eines zu tun, nämlich ihre Existenz zu beenden, »sie aus dem Weg zu räumen«.
»Einer, der reich und mächtig ist«, sagte der Alte, »vernichtet auf seinem Irrweg viele Leben, stürzt viele Menschen, die auf irgendeine Weise von ihm abhängen, ins Unglück. Die einzige Methode, alles wieder an seinen Platz zu rücken, ist, ihn zu töten und auf diese Weise die Macht zu zerstören, die er auf seinem Geld aufgebaut hat.«
Ich erwiderte:
»Aber ist der Mord an diesem Menschen denn nicht auch falsch? Sollte man nicht lieber einfach nur jeden Kontakt zu ihm meiden?«
Der Alte sah mich verwundert an und antwortete mit einer solchen Überzeugung, dass mir der Kopf schwirrte:
»Junge, was glaubst du, wer du bist, Jesus Christus? Nur Er allein kann Wunder vollbringen, unsere Aufgabe ist es, unserem Herrn zu dienen ... Und welchen besseren Dienst kann es geben, als die Söhne Satans vom Antlitz der Erde verschwinden zu lassen?«
Er war wirklich gut, der Alte.
Unsere Alten gaben uns die Gewissheit, dass wir recht handelten. Wer uns Böses will, soll weinen, dachten wir, denn Gott ist mit uns. Wir hatten unzählige Weisen, um unsere Gewalttaten und unser Verhalten zu rechtfertigen.
Doch an dem Tag, als ich dreizehn wurde, sollte etwas geschehen, das mich stutzig machte.
Alles begann so: Am Morgen dieses eiskalten Februartags erschien mein Freund Mel bei mir zu Hause und fragte, ob ich mitkommen wolle, in den anderen Teil der Stadt, ins Eisenbahnviertel, wo er im Auftrag des Warts unseres Viertels einem Kriminellen
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