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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wir waren eine richtige Bande aus Halbwüchsigen, mit einer Hierarchie nach Verbrechervorbild und mit den Verantwortlichkeiten, die die erwachsenen Kriminellen uns zugeteilt hatten.
    Unsere Aufgabe war die Überwachung. Wir streiften durch unser Viertel, trieben uns an den Grenzen zu den anderen Vierteln rum und meldeten den Erwachsenen jede auffällige Bewegung. Lief ein verdächtiger Typ durchs Viertel, ein Polizist, ein Tunichtgut, ein Krimineller aus einem anderen Viertel, dann wussten es unsere erwachsenen Autoritäten nach wenigen Minuten.
    Wenn Polizei anrückte, sperrten wir die Straße, setzten oder legten uns ihnen in den Weg und zwangen sie anzuhalten. Die Polizisten stiegen aus ihren Autos und beförderten uns mit Fußtritten aus dem Weg oder schleiften uns an den Ohren fort, und wir widersetzten uns nach Leibeskräften. Wir pickten uns den Jüngsten heraus und stürzten uns alle Mann auf ihn, einer schlug ihn, einer verbiss sich in seinem Arm, ein anderer krallte sich amRücken fest und klaute ihm die Mütze, und wieder ein anderer riss ihm die Knöpfe von der Uniform oder stahl ihm die Pistole aus dem Halfter. Wir machten so lange weiter, bis der Bulle vor Erschöpfung nicht mehr konnte oder bis seine Kollegen richtig zuzuschlagen begannen.
    Wenn man Pech hatte, bekam man was mit dem Gummiknüppel auf den Kopf und verlor ein bisschen Blut, aber das war’s.
    Einmal versuchte mein Freund, einem Polizisten die Pistole aus dem Halfter zu ziehen. Der Polizist merkte es rechtzeitig und konnte ihn noch an der Hand packen, allerdings so fest, dass mein Freund unfreiwillig den Abzug drückte und ihm ins Bein schoss. Als wir den Schuss hörten, rannten wir sofort in alle Richtungen davon, während diese Vollidioten hinter uns her ballerten. Im Laufen hörte ich die Kugeln ganz nah vorbeifliegen, aber zum Glück wurde keiner getroffen. Eine der Kugeln sprengte ein Stück Beton vom Gehweg, das mich ins Gesicht traf. Die Wunde war klein und gar nicht tief, musste nicht mal genäht werden, trotzdem sickerte aus irgendeinem seltsamen Grund jede Menge Blut heraus. Als wir bei meinem Freund Mel zu Hause ankamen, packte seine Mutter, Tante Irina, mich sofort am Arm und rannte mit mir nach Hause, wobei sie durchs ganze Viertel schrie, die Polizisten hätten mir in den Kopf geschossen. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber vergeblich, sie war zu sehr mit Laufen beschäftigt, und als wir endlich bei uns zu Hause ankamen, sah ich durch den Schleier aus Blut, wie meine Mutter leichenblass wurde und bereits ihr Friedhofsgesicht aufsetzte. Als Tante Irina endlich stehenblieb, wand ich mich wie eine Schlange aus ihrem Griff.
    Meine Mutter warf einen Blick auf die Wunde und sagte, ich solle ins Haus gehen, dann gab sie Tante Irina irgendwas, damit sie sich beruhigte.
    Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank im Hof, tranken Baldrian und weinten gemeinsam. Ich war damals neun Jahre alt.

    Ein andermal kamen alle Polizisten aus den Wagen gestürzt, um uns möglichst schnell aus dem Weg zu schaffen. Sie packten uns an Armen und Beinen und schleuderten uns an den Straßenrand; wir rappelten uns sofort wieder auf und liefen in die Straßenmitte, und die Köter fingen wieder von vorne an. Ein Spiel ohne Ende für uns.
    Einer meiner Freunde nutzte die Unachtsamkeit eines Köters und löste die Handbremse seines Wagens. Wir befanden uns auf einem kleinen Hügel, auf einer Straße, die zum Fluss führte, und das Auto ging ab wie eine Rakete. Wie erstarrt, mit wutverzerrten Gesichtern sahen die Polizisten zu, wie der Wagen die Straße hinuntersauste, ins Wasser platschte und – gluck-gluck – wie ein U-Boot verschwand. Da verschwanden auch wir, aber noch schneller als sonst, um nicht zu viele Prügel einzustecken.

    Wir überwachten nicht nur, sondern überbrachten auch Botschaften.
    Da es in der sibirischen Gemeinschaft nicht Usus war, per Telefon zu kommunizieren, das als unsicher galt und ein zu verachtendes Symbol war, erfreute sich die sogenannte »Straße« großer Beliebtheit: eine Kommunikationsform, bei der die Botschaften mündlich, als Brief oder in Form bestimmter Gegenstände überbracht wurden.
    Eine mündliche Botschaft hieß »Luftzug«. Wenn ein erwachsener Krimineller einem anderen einen Luftzug zukommen lassen wollte, rief er irgendeinen Halbwüchsigen, zum Beispiel seinen Sohn, und sagte ihm den Inhalt der Botschaft in der Verbrechersprache Fenja auf, die auf die Sprache unserer sibirischen Vorfahren

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