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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gefolterter Menschen. Eine Zeit, die mein Großvater als »Rückkehr der Dreißigerjahre« bezeichnete und die sehr lange andauerte. Mein Onkel Sergej wurde im Knast von den Wärtern umgebracht, viele andere mussten ihr Land verlassen und in alle Teile der Welt fliehen, um sich zu retten.

    Von all dem bekam Boris nichts mit, weil sein Kindergemüt sich nicht um die Wirklichkeit scherte, und schon gar nicht um eine Wirklichkeit, die von politisch-militärischen Erwägungen und brutaler Gewalt geprägt war.
    Er wollte seinen Zug führen, und das tat er auch nachts, weil wie überall auf der Welt auch sein Zug manchmal nachts fuhr ... Eines Abends, als er nach der Ausgangssperre zum Bahnhof ging, schossen die Soldaten ihm feige in den Rücken, ohne den Panzer auch nur zu verlassen, und ließen ihn tot auf der Straße liegen.
    Als ich davon erfuhr, fühlte ich mich plötzlich erwachsen, etwas in mir war für immer tot: Ich spürte es ganz genau, es war ein fast körperliches Gefühl, wie wenn man sich durch den Körper bewusst wird, dass man bestimmte Gedanken, Phantasien, Verhaltensweisen nie mehr haben wird – wegen der Last, die einem auf die Schultern gefallen ist.
    Mein Großvater wurde bleich und bebte vor Zorn; soschlecht war es ihm nicht mal gegangen, als sie meinen Onkel ermordet hatten, seinen Sohn. Er sagte, diese Leute seien verflucht, und dass Russland zur Hölle auf Erden werde, weil die Köter die Engel umbrachten.
    Mein Vater und die anderen Männer aus dem Viertel statteten den Kötern einen Besuch ab, und spät in der Nacht, als die Lichter in den Baracken gelöscht waren, eröffneten sie das Feuer. Es war eine Demonstration der totalen, blinden Wut, ein verzweifelter Schmerzensschrei. Sie töteten ein paar Köter, verwundeten viele, aber leider führten sie damit auch ganz Russland vor Augen, dass eine starke Polizeipräsenz bei uns tatsächlich nötig war.
    Kein Mensch wusste, was wirklich in Transnistrien los war, die Fernsehnachrichten stellten die Dinge auf eine Weise dar, dass hinterher sogar ich daran zweifelte, ob das, was ich kannte, real war.

    Ich erinnere mich noch daran, wie sie Boris’ Körper aufhoben und nach Hause brachten. Es war das Traurigste, was ich je gesehen habe.
    Auf seinem Gesicht lag noch dieser Ausdruck von Angst und Schmerz, den ich vorher noch nie an ihm gesehen hatte. Sein T-Shirt mit den Tauben war von Kugeln durchlöchert und triefte von Blut. Seine Lokführermütze hielt er noch in der Hand. Die Haltung des Körpers war schockierend: Er hatte sich zum Sterben wie ein Neugeborenes hingelegt, die Knie an der Brust, ganz zusammengekauert. Man sah, dass er in den letzten Sekunden starke Schmerzen gehabt haben musste. Seine Augen waren aufgerissen und eisig, darin lag eine verzweifelte Angst, wie eine Frage: »Warum tut es so weh?«
    Wir begruben ihn auf dem Friedhof unseres Viertels.
    Alle kamen zu der Beerdigung, Leute aus ganz Transnistrien waren da. Von seinem Zuhause bis zum Friedhofformierte sich eine lange Kette, und sein Sarg wurde gemäß einer alten sibirischen Sitte von Hand zu Hand weitergereicht, bis zum Grab ... Alle küssten sein Kreuz, viele weinten, verlangten wütend Gerechtigkeit. Seine arme Mutter betrachtete alle mit irrem Blick.

    Ein Jahr darauf war alles noch schlimmer geworden. Die
Köter eliminierten die Kriminellen am helllichten Tag,
mitten auf der Straße. Ich saß meine zweite Jugendstrafe
ab, und als ich rauskam, erkannte ich den Ort, an dem ich
geboren war, nicht wieder. Danach habe ich noch viel erlebt,
aber immer war mir bewusst, dass das sibirische Gesetz
recht hatte: Keine politische Macht, unter welcher
Flagge auch immer, ist so viel wert wie die natürliche Freiheit
einer einzigen Person. Wie die natürliche Freiheit von
Boris.

Mein dreizehnter Geburtstag

    W ir Jungen aus der Unterstadt lebten nach dem Gesetz der sibirischen Kriminellen, unser orthodoxer Glaube war gefestigt, wenn auch mit einem starken heidnischen Einschlag, und wegen unseres Verhaltens hießen wir beim Rest der Stadt nur die »Sibirische Erziehung«. Wir fluchten nicht, beleidigten nie den Namen Gottes oder der Madonna, wir redeten nicht respektlos über Alte, Schwangere, kleine Kinder, Waisen oder Behinderte. Wir waren weitgehend integriert, und anders als unsere Altersgenossen aus den anderen Vierteln brauchten wir keine Schimpfwörter, um uns erwachsen zu fühlen, weil wir behandelt wurden, als ob wir tatsächlich schon zur Verbrechergemeinschaft gehörten,

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