Sibirische Erziehung
zu sagen, wer ihn schickte. Auf eine Antwort musste er nicht warten.
Ein kaputtes Messer bedeutete den Tod einesBandenmitglieds, einer nahestehenden Person, und war ein sehr schlechtes Zeichen. Ein in der Mitte durchgeschnittener Apfel war die Aufforderung, die Beute aufzuteilen. Ein Stück trockenes Brot in einem Stofftuch war eine konkrete Warnung: »Achtung, die Ordnungshüter sind nah, in der und der Sache hat sich etwas Wichtiges ergeben.« Ein Messer in einem Tuch signalisierte einem gedungenen Mörder, zur Tat zu schreiten. Eine Schnur mit Knoten in der Mitte bedeutete: »Ich habe mit der Sache nichts zu tun.« Etwas Erde in einem Taschentuch hieß: »Ich verspreche dir, dass ich das Geheimnis für mich behalte.«
Es gab einfachere und komplexere Bedeutungen, »gute« – die zum Beispiel Schutz versprachen – und »schlimme« – Beleidigungen oder Todesdrohungen.
Wenn jemand den Verdacht hegte, ein anderer könnte Beziehungen unterhalten, die gegen die kriminelle Würde verstießen, zur Polizei oder zu anderen Clans etwa (ohne Erlaubnis des eigenen), ließ man ihm ein kleines Kreuz und einen Nagel zukommen, in schlimmen Fällen auch eine tote Ratte, die manchmal eine Münze oder einen Geldschein im Maul hatte, ein unmissverständliches Zeichen für die Todesstrafe. Dies war ein »schlimmer Wurf«, der schlimmste überhaupt: das Todesurteil.
Wer hingegen einen Freund zum Feiern einladen wollte, um sich zu amüsieren, zu trinken und ein bisschen lustig beisammen zu sein, der schickte ein leeres Glas. Das war dann ein »guter Wurf«.
Gute Botschaften überbrachte ich häufig, schlimme nie. Meist waren es organisatorische Mitteilungen, Einladungen, Versprechen.
Zu unseren Aufgaben gehörte es auch, uns so zu organisieren, dass wir den Ruhm unseres Viertels mehrten. Anders ausgedrückt: Wir sollten in der Lage sein, unter den Halbwüchsigen der anderen Viertel Chaos anzurichten.
Das war leichter gesagt als getan, denn Gewalt muss immer einen Grund haben, so will es unsere Tradition. Auch wenn das Ergebnis natürlich das gleiche bleibt: Ein eingeschlagener Schädel bleibt ein eingeschlagener Schädel.
Dabei konnten wir auf die Unterstützung der Alten zählen, die sich aus dem aktiven kriminellen Leben zurückgezogen hatten und nun von der Unterstützung der Jüngeren lebten. Als etwas exzentrische Rentner kümmerten sie sich um uns und unsere kriminellen Persönlichkeiten.
Es gab viele alte Kriminelle in unserem Viertel, und alle stammten aus der Kaste der sibirischen Urki: Sie lebten nach dem alten Recht, das von den anderen Verbrechergemeinschaften abgelehnt wurde, weil es dem Einzelnen ein demütiges, würdevolles, entbehrungsreiches Leben auferlegte, das Ideale wie Moral und religiöses Empfinden, Respekt gegenüber der Natur und den einfachen Leuten, den Arbeitern und allen, die von der Regierung und der Klasse der Reichen benutzt und ausgebeutet wurden, über alles andere stellte.
Die Reichen bezeichneten wir als Upiri , das sind Geschöpfe aus der heidnischen sibirischen Mythologie, die tief in den Wäldern und Sümpfen hausen und sich vom Blut der Menschen ernähren: richtige sibirische Vampire.
Es war uns daher verboten, Verbrechen zu begehen, die auf einer Verständigung mit den Opfern beruhte. Es galt als unwürdig, mit Reichen oder Vertretern der Regierung zu kommunizieren; man durfte sie ausrauben oder töten, aber nie bedrohen oder zu Abmachungen zwingen. Vergehen wie Erpressung, Schutzgelder eintreiben oder die Kontrolle illegaler Aktivitäten mittels geheimer Absprachen mit Polizei und KGB waren in unseren Augen eindeutig verwerflich. Die Sibirer verübten ausschließlichÜberfälle und Diebstähle, und bei illegalen Geschäften wurden keine Absprachen mit irgendwem getroffen, sie wurden selbständig ausgeführt.
Die anderen Gemeinschaften dachten nicht so, vor allem die junge Generation eiferte europäischen und amerikanischen Vorbildern nach; es waren Leute ohne Moral, die nur das Geld respektierten und um jeden Preis versuchten, ein pyramidenförmiges Verbrechersystem zu installieren, eine Art kriminelle Monarchie, während unser System einem Netz glich, wo alle miteinander verbunden waren und keiner persönliche Macht besaß, jeder tat das Seine im Interesse aller.
Schon als ich noch ein Halbwüchsiger war, mussten sich in vielen Verbrechergemeinschaften die einzelnen Mitglieder das Rederecht erst verdienen, vorher waren sie als Menschen nicht existent. In unserer Gemeinschaft
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