Sibirische Erziehung
Tag übten sie und schossen Fetzen der Putzlumpen, mit denen die Böden gewischt wurden, über die Mauer.
Um eine Maljawa abzuschießen, baute man eine »Rakete«, eine kleine Pappröhre mit einem langen, weichen Schwanz, der gewöhnlich aus Papiertaschentüchern (die im Gefängnis sehr schwer zu beschaffen waren) hergestellt wurde: Am anderen Ende wurde die Röhre geknickt, so dass man eine Art Haken bekam, in den der Gummizug eingehakt wurde; dann wurde er gespannt, und ein anderer zündete schnell den weichen Papierschwanz an. Sobald er Feuer fing, wurde die Rakete abgeschossen.
Der brennende Schwanz zeigte uns an, wo der Brief landete. Wir mussten so schnell wie möglich dorthin laufen und das Feuer löschen, damit die Röhre mit ihrem wertvollen Inhalt nicht in Brand geriet. Wir waren fast immer mindestens zu zehnt, und in einer halben Stunde hatten wir hundert Briefe und mehr eingesammelt. Zu Hause verteilten wir sie an die Familien und Freunde der Gefangenen. Für diese Arbeit wurden wir bezahlt.
Jede Verbrechergemeinschaft hatte ihren festen Tag imMonat, an dem ihre Briefe abgeschossen wurden. Manchmal, wenn es sich um einen sehr dringenden Brief handelte, halfen die Kriminellen einander, auch wenn man verschiedenen Gemeinschaften angehörte. So waren manchmal unter den Briefen unserer Kriminellen auch Briefe von Mitgliedern anderer Gemeinschaften, aber wir trugen sie trotzdem aus. Genauer gesagt musste derjenige, der den Brief aufgehoben hatte, ihn auch ausliefern, eine Regel, die den Zweck hatte, Streit zwischen uns zu vermeiden. In diesen Fällen wurden wir nämlich, anders als sonst, nicht bezahlt. Wir brachten die Briefe zum Haus des Warts, einer seiner Helfer nahm sie in Empfang und legte sie in einen Tresor: Später kamen die Leute vorbei, nannten ein Wort oder eine Geheimzahl, und wenn er einen Brief fand, der so bezeichnet war, händigte er ihn dem Empfänger aus. Diese Dienstleistung wurde nicht bezahlt, sie gehörte zu den Pflichten des Warts; gab es Ärger mit der Post, verschwanden Briefe oder keiner von uns ging zum Gefängnis, um sie aufzuheben, konnte der Wart streng bestraft werden, bis hin zum Tod.
Die Rospika , also »die Unterschrift«, wurde sowohl im Gefängnis wie auch draußen benutzt. Sie konnte als eine Art Passierschein fungieren, ausgestellt von einer kriminellen Autorität zu dem Zweck, dem Inhaber einen ruhigen Aufenthalt und einen brüderlichen Empfang an Orten zu garantieren, wo niemand ihn kannte, zum Beispiel in weit von seiner Heimat entfernten Knästen oder in Städten, in die er eine Geschäftsreise unternahm. Dass die Unterschrift auch direkt auf die Haut tätowiert werden konnte, habe ich ja schon erwähnt.
Die Rospika diente zum Beispiel auch dazu, alles, was in der Verbrecherwelt Rang und Namen hatte, zu einer großen Versammlung der kriminellen Autoritäten zusammenzurufen oder um offen und gefahrlos einenBefehl, der an mehrere Leute gerichtet war, zu überbringen; dank der verschlüsselten Sprache blieb es ohne Folgen, wenn die Unterschrift der Polizei in die Hände fiel.
Solche Briefe habe ich ein paar Mal überbracht: Es waren ganz normale Briefe, immer offen. Kriminelle Autoritäten verschließen ihre Briefe nie, nicht nur, weil sie verschlüsselt sind, sondern vor allem, weil der Inhalt nie auch nur den Hauch eines Schattens auf sie werfen darf; es dient dazu, die Macht des kriminellen Gesetzes zu demonstrieren und eine Art kriminelles Charisma zu verbreiten.
Einmal überbrachte ich eine Unterschrift mit einem Befehl, der aus den sibirischen Knästen kam und an die Knäste der Ukraine gerichtet war. Den ukrainischen Kriminellen wurde aufgetragen, im Gefängnis bestimmte Regeln einzuhalten, zum Beispiel das Verbot homosexueller Beziehungen oder der Bestrafung einzelner Gefangener durch körperliche oder sexuelle Erniedrigung. Der Brief war von sechsunddreißig sibirischen Verbrecherautoritäten unterschrieben. Mein Exemplar war nur eine von zahlreichen Kopien des Originalbriefs, der vervielfältigt und unter allen Kriminellen auf dem Gebiet der Sowjetunion – ob im Gefängnis oder in Freiheit – verbreitet werden sollte.
Eine andere Form der Kommunikation, »Wurf« genannt, erfolgte durch Weitergabe bestimmter Gegenstände.
Dabei wurde einem beliebigen Boten, auch einem Halbwüchsigen, ein Gegenstand übergeben, der in der kriminellen Gemeinschaft eine bestimmte Bedeutung hatte. Die Aufgabe des Boten war es, den Gegenstand zum Empfänger zu bringen und
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