Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
eine Botschaft überbringen sollte.
    Der Wart hatte ihm gesagt, dass er jemanden mitnehmen könne, aber nur einen, nicht mehr, denn es gehört sich nicht, Botschaften in der Gruppe zu überbringen, so was gilt als Gewaltdemonstration, fast als Drohung. Und Mel hatte sich leider mich ausgesucht.
    Ich hatte nicht die geringste Lust, den ganzen Weg durch die Kälte zu stapfen, schon gar nicht an meinem Geburtstag: Ich hatte für den Abend nämlich die ganze Bande zum Feiern ins Haus meines Onkels eingeladen, das leer stand, weil er im Knast saß. Er hatte mir sein Haus überlassen, und ich konnte dort anstellen, was ich wollte: Ich musste es nur sauber halten, seine Katzen füttern und die Blumen gießen.
    An diesem Morgen wollte ich eigentlich meine Fete vorbereiten, und als Mel mich bat, ihn zu begleiten, war ich echt schlecht gelaunt. Aber ich konnte nicht ablehnen, ich wusste, dass er allein bestimmt nur Unheil angerichtet hätte. Also zog ich mich an, dann frühstückten wir gemeinsam und machten uns auf den Weg ins Eisenbahnviertel. Weil zu viel Schnee lag, konnte man nicht mit dem Fahrrad fahren, deshalb gingen wir zu Fuß. Den Bus nahmen ich und meine Freunde nie, weil man zu lange warten musste, zu Fuß ging es schneller. Beim Gehen redete ich mit meinen Freunden normalerweise über alles Mögliche, was im Viertel oder in der Stadt so los war. Aber mit Mel fiel die Unterhaltung schwer, Mutter Natur hatte ihm nicht gegeben, verständliche Sätze zu bilden. Ich traue mich kaum, die Dinge, die er sagte, hier wiederzugeben,schlicht weil ich dem roten Faden seiner Aussagen nicht folgen konnte beziehungsweise gar keinen fand.
    Unsere Gespräche hatten die Form eines Dialogs, den ausschließlich ich bestritt, Mel beschränkte sich auf kurze Einwürfe Marke »Ja«, »A-ha«, »M-m-m« und andere kleinste Lauteinheiten, die er ohne Anstrengung hervorstoßen konnte.
    Ab und zu blieb Mel wie angewurzelt stehen, und sein Gesicht wurde zu einer Maske aus Wachs, das auf einer Seite heruntertriefte: Das hieß, dass er nicht begriffen hatte, wovon ich redete. Dann musste ich ebenfalls sofort stehenbleiben und erklären: Erst dann nahm Mels Gesicht wieder seinen normalen Ausdruck an, und er setzte sich wieder in Bewegung.
    Nicht, dass sein normales Gesicht besonders viel hermachte: Es war von einer frischen Narbe durchzogen, und an Stelle des linken Auges klaffte ein Loch. Ein Unfall hatte ihn so zugerichtet: Er war selbst schuld, er hatte den Zünder eines Flakgeschosses falsch angefasst, das ihm daraufhin ein paar Zentimeter vor dem Gesicht explodiert war. Der Leidensweg der chirurgischen Eingriffe, die sein Antlitz wiederherstellen sollten, war noch nicht abgeschlossen, und Mel lief damals mit diesem grauenhaften Loch an Stelle des fehlenden Auges herum. Das falsche Auge aus Glas sollte er erst drei Jahre später erhalten.
    So war Mel in allem, bei ihm fehlte die Verbindung zwischen Körper und Gehirn, zum Nachdenken musste er stehenbleiben, sonst kam er einfach zu keinem vernünftigen Schluss, und umgekehrt, wenn er eine Bewegung machte, war er nicht in der Lage zu denken. Deshalb nannte ich ihn halb im Scherz, halb im Ernst »Esel«: eine unwürdige Bosheit meinerseits, ich geb’s zu, aber wenn ich mir ein derartiges Verhalten herausnahm, dann nur, um mir Luft zu machen: Schließlich musste ich ihn vonmorgens bis abends ertragen und ihm alles wie einem Kind erklären. Er war nicht beleidigt, aber er wurde schlagartig ernst, als würde er über den geheimen Grund nachdenken, weshalb ich ihn so titulierte. Einmal verblüffte er mich, als er aus heiterem Himmel, in einer Situation, die überhaupt nichts damit zu tun hatte, plötzlich zu mir sagte:
    »Ich hab verstanden, warum du immer Esel zu mir sagst! Weil du meinst, ich hab zu lange Ohren!«
    Und dann wurde er sauer und begann, die Größe seiner Ohren zu verteidigen.
    Ich antwortete nichts, ich sah ihn nur an.
    Er war ein hoffnungsloser Fall, und als ob das nicht genug gewesen wäre, kiffte und soff er.

    Mel und ich gingen also an diesem Februarmorgen über die schneebedeckten Straßen. Bei niedriger Luftfeuchtigkeit ist der Schnee sehr trocken und macht ein ulkiges Geräusch, es hört sich an, als würde man über Kräcker laufen.
    Die Sonne schien, und der blanke Himmel versprach einen schönen Tag, allerdings wehte ein leichter, konstanter Wind, der diese Vorhersage kippen konnte.
    Wir beschlossen, durchs Zentrum zu gehen und dort in einem Lokal etwas zu essen –

Weitere Kostenlose Bücher