Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
einem Mittelding aus Bar und Restaurant –, das von Tante Katja geführt wurde, der Mutter eines guten Freundes, der im Sommer zuvor im Fluss ertrunken war.
    Wir besuchten sie häufig, und um sie von ihrer Einsamkeit abzulenken, erzählten wir ihr, wie es uns so ging. Sie hatte uns gern, weil wir an dem Unglückstag mit ihrem Sohn zusammengewesen waren und diese Geschichte, so leidvoll sie war, uns für immer vereint hatte.
    Der Körper von Witalitsch (so hieß der Freund) warnicht sofort gefunden worden. Die Suche gestaltete sich schwierig, weil zwei Tage zuvor hundert Kilometer stromaufwärts ein Damm gebrochen war.
    Das ist eine andere Geschichte, aber auch diese Geschichte soll erzählt werden.

    Es war Sommer, und es war sehr heiß. Der Damm brach nachts, und ich erinnere mich, dass ich von einem fürchterlichen Lärm aufwachte, wie von einem nahenden Gewitter.
    Wir liefen aus den Häusern und merkten, dass der Lärm vom Fluss kam. Wir gingen nachschauen und fanden ein Chaos vor: riesige Flutwellen aus schäumendem Wasser schlugen immer heftiger gegen das Ufer und rissen Schiffe und Boote mit sich.
    Jemand hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete damit auf den Fluss, im Wasser wimmelte es von Gegenständen, die herumwirbelten wie in einer großen Waschmaschine: Kühe, Boote, Baumstämme, Tonnen, Lumpen und Stofffetzen, die aussahen wie Bettlaken. Hier und da in diesem Chaos aus Wasser tauchten Möbel auf. Man hörte Schreie.
    Zum Glück befand sich unser Viertel auf dem Hochufer, weshalb die Flutwelle uns nicht mit zerstörerischer Wucht getroffen hatte: Auch bei uns war alles überschwemmt, in Häusern und Kellern stand das Wasser, aber es hatte keine schweren Schäden angerichtet.
    Am nächsten Tag war der Fluss völlig zugemüllt, und wir nahmen uns vor, ihn zu säubern, ihm nach Leibeskräften zu entreißen, was wir nur konnten. Wir hatten ein paar Motorboote, die von der Flutwelle verschont worden waren, weil sie auf dem Ufer lagen, als der Damm brach.
    Auch meine Boote waren noch da. Ich hatte zwei, ein großes, mit dem ich schwere Lasten transportierte (imSommer plünderten wir regelmäßig die moldawischen Apfelbäume und Lebensmittellager), und ein kleines, schmales, mit dem ich nachts zum Fischen fuhr. Es war schnell und wendig, und mit diesem Boot »führte ich das Netz«, das heißt, ich fuhr gegen den Strom und versuchte, mit dem Netz den mittleren Teil des Flusses, wo die meisten Fische durchzogen, abzusperren.
    Das kleine Boot war noch da, weil ich es nach Hause mitgenommen hatte, um kleinere Reparaturen zu erledigen. Das andere lag in einem Schuppen am Ufer: Vor einem Monat schon hatte ich den dortigen Wärter beauftragt, es mit einem Speziallack zu streichen. Der Wärter hieß Ignat und war ein guter, armer Mann, aber er hatte nie Zeit: Dauernd musste er irgendwas Dringendes erledigen oder sich besaufen, bis ihm die Sinne schwanden.
    Insgesamt hatten wir acht Boote, die wir in vier Gruppen aufteilten, je Gruppe zwei Boote zu je vier Jungen.
    Wir organisierten es so, dass der Fluss stets von zwei Booten »geschlossen« wurde, die den Müll herausfischten: Eine Mannschaft, die lange Stöcke mit großen Eisenhaken an der Spitze dabei hatte, fischte Äste und Baumstämme, Tierkörper und größere Gegenstände heraus. Die Beute wurde an den Booten festgebunden, und wenn kein Platz mehr war, kehrte die Mannschaft zum Ufer zurück, wo andere Jungen auf sie warteten, ins Wasser sprangen und das Ganze ausluden. Schon früh am Morgen brannte am Ufer ein gigantisches Feuer, auf das wir die Überreste warfen: Nach einer halben Stunde fingen – unter Zuhilfenahme von Benzin – selbst die völlig vollgesogenen Baumstämme Feuer.
    Gegen Mittag war das Feuer riesig geworden, man konnte nicht in seine Nähe, sonst wurde man gebraten. Mit vereinten Kräften warfen wir den Kadaver einer Kuh in die Flammen, dazu mehrere Schafs-, Hunde-, Hühner- und Gänseleichen.
    Um vier Uhr nachmittags fischten wir die erste Leiche heraus.
    Es war ein Mann im mittleren Alter, bekleidet, mit zertrümmertem Schädel. Als er von der Welle erfasst worden und ins Wasser gefallen war, musste er mit etwas Hartem zusammengestoßen sein, einem Stein oder Baumstamm.
    Ein anderes Team war mit Keschern bewaffnet und fischte kleine Gegenstände heraus, die auf dem Wasser trieben: Konservendosen, große Flaschen, allerlei frisches Obst und Gemüse, Äpfel und Pfirsiche, Wassermelonen und Kartoffeln, ferner Kinderspielzeug,

Weitere Kostenlose Bücher