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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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überall nur Erde, Laub und anderer Dreck, so dass man nicht wusste, wie das, was man da transportierte, beschaffen war. Am Tag zuvor hatte sich ein Junge beim Transport eines Baumstamms verletzt, als sich ihm ein Ast in die Wade gebohrt hatte, er hatte viel Blut im Wasser verloren, und noch ehe er begriff, was los war, war er ohnmächtig geworden. Zum Glück hatten die anderen es sofort gemerkt und ihn ans Ufer gebracht, und die Sache war glimpflich ausgegangen.

    Gegen Mittag kamen Angehörige der Menschen, die der Fluss mit sich gerissen hatte. Sie gingen um den Körper des Ertrunkenen, den wir gefunden hatten, herum, und schließlich erkannte eine Frau ihn:
    »Das ist mein Mann.«
    Sie war in Begleitung ihres Schwagers und zweier weiterer Männer, Freunde der Familie. Auch ein ungefähr zehnjähriges Mädchen war dabei, ein sehr kleines Kind mit schwarzen Haaren und Augen, wie sie viele Moldawier haben.
    Die Frau begann zu weinen, schrie und warf sich über den Körper des Toten. Sie umarmte und küsste ihn. Auch ihre Tochter begann zu weinen, aber leise, als ob sie sich vor uns schämte.
    Schließlich stellten die Moldawier sich vor und sagten auch den Namen des Toten, an den ich mich aber nicht mehr erinnere.
    Der Bruder des Ertrunkenen versuchte, die Frau zu beruhigen, er führte sie zum Auto, aber sie weinte und schrie auch dort immer weiter.
    Die drei Männer luden den Leichnam auf den Rücksitz des Wagens. Sie bedankten sich und wollten uns Geld geben, aber wir lehnten ab. Ein paar von uns luden ihnen den Kofferraum mit Flaschen voll. Sie sahen uns fragend an.
    »Dann spart ihr bei der Beerdigung die Getränke«, sagten wir.
    Sie bedankten sich überschwenglich. Die Frau küsste uns die Hände und wollte gar nicht mehr aufhören, weshalb wir uns lieber schnell wieder an die Arbeit machten.
    Unterdessen kamen noch mehr Leute, die ihre Toten suchten. Manche wollten mit anpacken, und wir ließen sie: die Armen, sie hofften dabei zu sein, wenn die Körper ihrer Liebsten geborgen würden. Aber es ist gar nicht leicht, einen Ertrunkenen zu finden, normalerweise bleiben die Körper drei Tage unter Wasser, und erst wenn sie anfangen zu verwesen und sich mit Gas füllen, steigen sie an die Oberfläche. Es war purer Zufall gewesen, dass wir den Körper des armen Moldawiers gefunden hatten, eine starke Strömung musste ihn an die Oberfläche gerissen haben, und wenn wir ihn nicht gleich erwischt hätten, wäre er bestimmt wieder untergegangen.

    Witalitsch und fünf andere waren dabei, einen Baumstamm mit vielen Ästen, die aus dem Wasser schauten, ans Ufer zu ziehen. Ein Mordsding, das sah man.
    Sie hatten beschlossen, ihn umzudrehen, mit der Krone zum Ufer, damit die an Land ihn besser packen konnten.
    In dem Augenblick, als sie ihn umdrehten, verhedderte sich Witalitsch mit dem Fuß zwischen den Ästen. Er konnte noch schreien, den anderen signalisieren, dass er eingeklemmt war, aber plötzlich begann sich der Stamm wie ein Propeller zu drehen: Er drehte sich mit all seinem Gewicht und zog Witalitsch unter Wasser.
    Wir konnten es nicht glauben.
    Alle stürzten ins Wasser, um ihn herauszuziehen, aber er war nicht mehr da, hing weder am Baum noch sonst wo im Umkreis von mehreren Metern.
    Sofort sperrten wir mit dem Netz das Gebiet ab, damitdie Strömung ihn nicht mit sich riss. Dann suchten wir den Grund ab.
    Wir sprangen in das schmutzige Wasser, wo man nichts sehen konnte und Gefahr lief, mit irgendwelchen Gegenständen zusammenzustoßen. Tatsächlich stieß einer mit einem Baumstamm zusammen, aber zum Glück nicht zu heftig.
    Witalitsch blieb verschwunden.
    Nach zehn Minuten erfolgloser Suche sahen wir uns wütend an.

    Ich erinnere mich, dass ich mich immer aufs Neue ins Wasser stürzte: Ich tauchte hinunter, bis auf den Grund, fünf oder sieben Meter, und suchte mit den Händen im Nichts.
    Plötzlich stieß ich auf etwas, ein Bein! Ich packte es, presste es gegen meinen Körper. Ich stemmte die Füße in den Boden und ging in die Knie, dann stieß ich mich kräftig ab und schoss wie eine Sprungfeder nach oben, an die Oberfläche.
    Erst da merkte ich, dass ich Mels Bein in der Hand hielt. Sein Kopf schaute aus dem Wasser, und er sah mich verdutzt an.
    Ich wurde sauer und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Er gab’s mir zurück, und das tat ganz schön weh.

    Trotz stundenlanger Suche gelang es uns nicht, Witalitschs Körper zu finden.
    Wir waren müde und nervös, viele stritten miteinander: Beleidigungen

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