Sibirische Erziehung
Gestell unter dem Topf, und im nächsten Augenblick ergossen sich zweihundert Literkochendes Wasser über den Fußboden. Ein paar Meter entfernt saß ein Kleinkind und spielte, der Sohn unseres Nachbarn Onkel Sanja. Ich war in den Garten gegangen, um noch Gläser zu holen. Als ich das Gepolter des umstürzenden Topfs hörte, rannte ich ins Haus und sah gerade noch, wie der alte Borischka eine große Zinkschüssel packte und auf den Boden warf, hineinsprang und damit losglitt wie auf einem Surfbrett. Durch den Dampf, der so dicht und weiß wie Morgennebel über dem Fluss war, sah ich dann eine menschliche Gestalt, die mit einem Kind im Arm in einer Schüssel stand, mitten im kochendheißen Wasser. Die Mutter des Kindes wurde ohnmächtig, der Vater, Onkel Sanja, begann zu schreien; die einzigen, die ruhig blieben, waren Borischka und der Kleine.
Er hatte instinktiv gehandelt, ohne darüber nachzudenken, und hinterher nahm er wieder den gelassenen Ausdruck wie immer an, als würde er so was vier Mal am Tag machen.
Borischka war ein unheimlich interessanter Mensch, ich unterhielt mich gern mit ihm, hörte mir die Geschichten aus seinem Leben an. Oft ging er mit seiner selbstgebauten Angelrute zum Fluss, und dann stand er da mit den Füßen im Wasser, angelte und sang japanische Lieder. Als ich klein war, brachte er mir eins bei, das ich sehr schön fand: Es handelte von einem Gebirge und einem jungen Mann, der es auf der Suche nach seiner Verlobten durchquerte.
Wir hatten mit Borischka eine Abmachung: Wenn wir am Lager vorbeikamen, mussten wir so tun, als würden wir ihn nicht kennen. Wenn er am Eingangstor Wache hielt, durften wir ihn nicht mal grüßen. Oft war er in Gesellschaft eines alten Schäferhunds, der Probleme mit den Pfoten hatte und kaum laufen konnte; gewöhnlich saßenbeide auf einer Bank, Borischka las die Zeitung, der Hund schlief. Borischka las ausschließlich die »Prawda«, was so viel bedeutet wie »Die Wahrheit«. Es war die kommunistische Propagandazeitung, die alle lasen, die glauben wollten, sie lebten im schönsten und freiesten Land der Welt. In der »Prawda« wurde jede Nachricht in reine Propaganda umgewandelt: Selbst wenn man über Katastrophen und Kriege las, erfüllte einen hinterher ein Glücksgefühl, und man war froh, in der Sowjetunion leben zu dürfen. Ich weiß nicht, weshalb Borischka so an dieser Zeitung hing, einmal wollte ich ihn danach fragen, aber er meinte nur, und zwar wörtlich:
»Wenn du den Kühen schon beim Singen zuhören musst, dann such dir wenigstens die aus, die am besten singt.«
Wenn wir am Tor des Lebensmittellagers vorbeigingen, sah ich immer weg, damit ich gar nicht mitbekam, ob Borischka da war oder nicht, ich durfte ihn ja eh nicht grüßen. Nur mein Freund Mel konnte sich nie an diese einfache, aber wichtige Regel halten. Jedes Mal glotzte er zum Tor hin, und wenn er Borischka sah, winkte er ihm zu und lächelte ihn mit seinem entstellten Gesicht an. Ich warf ihm dann einen bösen Blick zu, und da erst fiel ihm unsere Abmachung mit Borischka wieder ein, und er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Mel war der Triumph der Blödheit. Nicht umsonst sagte Großvater Kusja, einer wie Mel würde noch die Irren wahnsinnig machen.
Borischka wurde stinksauer, wenn Mel ihn grüßte. Nach der Arbeit kam er bei mir oder Gagarin vorbei und sagte mit Wut in der Stimme, aber leise, leiernd:
»Euch geht’s wohl zu gut, seid ihr endlich reich geworden!«
»Hä? Wir sind doch nicht reich ...«
»Anscheinend doch, wo ihr ja nicht länger mit mir zusammenarbeiten wollt, nicht mehr Geld verdienen ...«
Bei diesen Worten stellten sich mir die Nackenhaare auf. Nicht mehr mit Borischka zusammenzuarbeiten hätte bedeutet, auf die Hälfte unserer Einkünfte zu verzichten.
»Wir haben nichts getan, Onkel Borischka.«
»Ach nein? Bringt gefälligst diesem Schwachkopf von Freund bei, wie er sich verhalten soll. Und wenn er das nicht kapiert, dann bringt ihn nicht wieder mit zu den Lagerhäusern, macht lieber einen Umweg ...«
Wir redeten mit Mel, erklärten ihm noch mal alles von vorn, aber es war sinnlos. Als wir beim nächsten Mal an den Lagern vorbeikamen, suchte er wieder nach dem Alten, um ihn zu grüßen. Seine Anwesenheit war für uns wie eine Strafe.
Eines Tages, als wir an Borischkas Haus in unserem Viertel vorbeigingen, blieben wir stehen, um uns ein bisschen mit ihm zu unterhalten. Irgendwann fiel uns auf, dass Mel abseits stand, auf der anderen
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