Sibirisches Roulette
zum Atemholen flüsterte er Jugorow zu: »Was ist denn das, Genosse? Ein Lobgesang? Sollen wir Beifall klatschen? Verwechselt du nicht deine Rede?«
»Was ich jetzt sage«, referierte Jugorow ungerührt weiter, »sind alles Worte, die ich auf dem Weg vom Süden bis hier zu euch immer wieder gehört habe. In dicken Büchern kann man es lesen, und auch euch wird man es noch oft vortragen. Deshalb bin ich hier. Ich will zuerst sagen, worum es geht. Wollt ihr Zahlen hören? Ich nenne euch ein paar, obwohl: Begreifen werdet ihr sie doch nicht, weil man sich nicht vorstellen kann, daß so etwas möglich ist. Hört zu: Um den Kanal zu bauen, muß man sechs Milliarden Kubikmeter Erde bewegen; mehr also, als man zum Bau von sechstausend Cheopspyramiden nötig hätte …«
»Was soll das?!« schrie Großväterchen wieder dazwischen. »Was ist mit Klopse? Wer will hier sechstausend Klopse essen?«
»Sei still!« zischte Beljakow II dem Alten ins Ohr. Er schämte sich für ihn. »Ich erklär' dir's später!«
»In zehn Jahren, so haben die Experten ausgerechnet, kann der Kanal fertig sein«, erläuterte Jugorow. »Hunderttausende von Arbeitern und Maschinen werden vom Ob bis zum Aral-See die Erde aufwühlen – ein riesiges Heer! In diesen zehn Jahren wird die Bevölkerung in den mittelasiatischen Republiken um zwanzig Millionen zunehmen und müssen fünfzig Millionen Hektar brachliegenden, aber fruchtbaren Bodens bewässert werden. Eines Tages fließen jährlich sechzig Kubikkilometer Wasser aus dem Ob nach Süden. Wißt ihr, was das heißt?«
»Sechstausend Klopse –«, sagte Großväterchen Beljakow, noch immer erschüttert von der Zahl.
»Der Ob läßt jährlich vierhundert Kubikkilometer Wasser in das Nördliche Eismeer fließen, etwa ein Sechstel davon wird dann zurückfließen zum Aral. Wie schön hört sich das an, nicht wahr? Rußland schafft eine neue Welt … ja, und neu, ganz anders wird diese Welt tatsächlich sein, wenn der Sib-Aral-Kanal gebaut wird. Hundertfünfzig Forschungsinstitute haben daran zehn Jahre lang gearbeitet, achtzig wissenschaftliche Konferenzen wurden abgehalten. Berge von Berechnungen wurden ausgearbeitet. In den Herzen der Wissenschaftler jubelte es, der Genosse Leonid Breschnjew sprach seinen Segen über das Projekt ›Im Interesse der Volkswirtschaft‹. Die Vorarbeiten am Kanal konnten beginnen. Welch eine Zukunft für Rußland! Nur eins verschweigt man, erzählte es euch nicht, gab sich dabei taub auf beiden Ohren: Daß die ganze Welt um uns herum gegen den Bau protestierte …«
»Sechstausend Klopse!« Der Veteran kam nicht darüber hinweg.
»Bring ihn raus!« schrie vom Tisch mit der grünen Decke Rudenko. »Nichts kapiert er mehr. Setz ihn an den Ofen.«
»Wer mich anrührt, kriegt einen Schlag!« brüllte der Alte und hob seinen Stock. »Wer will's? Kommt her!«
»Die Berechnungen stimmten alle«, rief Jugorow in den Saal. »Nur hatten sie einen bösen Beigeschmack! Wenn nämlich sechzig Kubikkilometer Wasser weniger ins Eismeer fließen, dann erwärmen sich das Eismeer und die Polregionen. Die Temperaturen am Nordpol steigen an, und nur ein Grad mehr Wärme am Pol bedeutet: ungeheure Mengen Eis beginnen zu schmelzen. Der Wasserspiegel der Weltmeere hebt sich. Europas Küsten versinken, die Inseln dort werden vom Wasser verschlungen, das auch weite Landstriche in Deutschland, Holland und Belgien, an den Küsten Frankreichs und Spaniens überflutet. Halb Holland wird unter Wasser sein, das Hamburger Rathaus steht drei Meter unter dem Meeresspiegel, das gesamte Klima Europas ändert sich, in den Alpen gibt es keinen Schnee mehr, Skifahren ist niemals mehr möglich; kurz und gut: eine Umweltkatastrophe unübersehbaren Ausmaßes zerstört Europa – ganz allein durch uns, durch nichts als diesen Kanal. Nur, weil ein bißchen von dem Eis am Nordpol zu schmelzen beginnt …«
»Genosse, eine Frage«, ließ sich Großvater Beljakow wieder vernehmen. »Was ist Hamburg?«
»Eine große Stadt in Deutschland.«
»Ha! Ein Nest der Faschistenbrut!«
»Der Krieg ist fast vierzig Jahre vorbei, Großväterchen …«
»Was ändert das?« schrie der Alte und fuchtelte mit dem Stock durch die Luft. »Deutsch bleibt deutsch; ersaufen sollen sie! Recht geschieht ihnen … Brüderchen, laßt den Pol schmelzen, dann ist Ruhe in Europa! – Wer will die sechstausend Klopse?«
»Zustimmen muß man ihm«, sagte auch Korolew hinter Jugorow. »Was geht uns Hamburg an? Was die deutschen Inseln,
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