Sibirisches Roulette
wie man den Attentäter in die Hand bekommen könnte. Die Geiseln wissen nichts, aber Niktin hat ihm eingeredet, daß einer aus der Familie der Geiseln der Täter sein muß. Er grübelt und grübelt, und einmal sagte er ganz plötzlich zu mir: ›Was bleibt mir übrig? Das ganze Dorf muß ich bestrafen!‹ Und als ich zu bedenken gab: ›Genosse Major, wenn's nun einer aus dem Lager war?‹, murmelte er vor sich hin: ›Wenn auch … dieses Dorf muß weg! Dann ist Ruhe.‹ – Jetzt meint er's ernst.«
»Du hättest ihn nicht operieren dürfen; kein Problem gäb's dann mehr.«
»Meine Pflicht als Arzt, Igor Michailowitsch.« Sie zog den grünen Operationskittel aus. Darunter war sie nackt. Nur ein knapper Büstenhalter unterbrach den gebräunten Körper. Wie schön sie ist, dachte Jugorow, und er dachte es immer wieder, so oft er Walja sah. Wie wunderbar … Sie streifte eine Bluse über, hellblau mit kleinen Blumen, und steckte sie in den Rockbund. »Im Notfall gibt es weder Freund noch Feind. Ich weiß noch, was Großvater mir erzählte. In Stalingrad, dort hat er auch gekämpft, krochen in den Gefechtspausen sowohl unsere als auch faschistische Sanitäter und Ärzte aus den Ruinen und Trichtern, sammelten die Verwundeten auf und tauschten Medikamente aus. Sie waren keine Feinde mehr, sie waren nur noch Ärzte.«
»Man hätte trotzdem abwägen müssen – bei Nasarow, nur bei ihm!« sagte Jugorow hart. »Indem du einen rettest, opferst du ein ganzes Dorf. Einer für zweihundert. Ist Nasarow so viel wert?«
»Ein Arzt sieht nur den, der Hilfe braucht.«
»Und weiter denkt er nicht?«
»Ich hätte Nasarow sterben lassen sollen?«
»Ja.«
»Auch das wäre Mord gewesen.«
»Du hast nie daran gedacht? Walja, sein Jeep stand vor dir und mir, und keiner von uns ist damit losgefahren, um Hilfe zu holen. Gelaufen bin ich, wertvolle Minuten haben wir verschenkt … Laß ihn tot sein, wenn der Ambulanzwagen kommt, laß ihn dann tot sein … haben wir beide nicht den gleichen Gedanken gehabt?«
»Igor …« Sie lehnte sich an ihn und schloß die Augen. »Igor, sprich nie mehr davon. Nie mehr … bitte!«
»Und dann hast du ihn doch noch operiert.«
»Er lebte ja noch, als der Wagen kam. Er lebte noch. Da war es meine Pflicht, ihm zu helfen. Oh, wäre er doch in diesen langen Minuten gestorben …« Ihr Kopf zuckte hoch; eine Erinnerung packte sie, die nicht zu dem paßte, was Jugorow jetzt sagte. »… Hast du nicht verboten, das Messer herauszuziehen?«
»Er wäre innerlich verblutet.«
»Also tot gewesen! Auch du hast es verhindert.«
»Einen Menschen töten kann ich nicht«, sagte Jugorow leise. »Nicht so.«
»Aber ich sollte mutiger sein als du …«
»Nicht mutiger, Walja. Nur wegsehen solltest du. Nichts tun, einfach nichts tun. Nicht mutig sein – das bist du ja immer, Walja –, nein, einmal hättest du feige sein müssen.« Er legte den Arm um ihre Schulter, sie verließen das Hospital und traten hinaus in den warmen Abend. »Jetzt wird vielleicht ein ganzes Dorf ausgelöscht.«
»Meinst du wirklich, Igor?«
»Niktin hetzt ihn dazu auf.«
»Dann sollten wir mit Niktin sprechen.«
»Vergeblich. Ein eitler Mensch ist er, und gegen diese Eitelkeit hat man getreten. Nie wird Niktin das vergessen.«
»Ist er damit gefährlicher geworden als Nasarow?«
»Auf einer anderen Ebene gewiß. Niktin ist das Gehirn, Nasarow die Keule. Angst habe ich um Lebedewka.«
»Angst um Soja?«
Mit einem Ruck blieb sie stehen. Gequält schüttelte Jugorow den Kopf.
»Um Soja geht es nicht. Abseits vom Dorf, im Sumpf, wohnt sie. Vor Nasarow ist sie sicher. Er ahnt gar nicht, daß es das Schwarze Haus gibt. Auch bei dem ersten Überfall hat keiner sich um den Sumpf gekümmert und ob dort noch jemand sein könnte.«
»Das Schwarze Haus?«
»So nennen es die Leute. Seit Generationen. Die Trofimows waren immer Außenseiter. Heute weiß keiner mehr, warum … nur vererbt worden ist die Abneigung.«
Krasnikow und Meteljew kamen ihnen entgegen. Man grüßte sich freundlich, und Meteljew rief ihnen zu:
»Wie ist's, liebe Freunde? Heute abend in der Kantine? Getanzt wird. Ich möchte, wenn Sie's erlauben, Jugorow, einmal mit der Genossin Ärztin tanzen.«
»Soviel Sie wollen, Meteljew.«
»Sagen Sie es nicht zu laut!« rief Krasnikow fröhlich. »Nicht zu sicher sein, Jugorow; plötzlich ist sie weg! Meteljew tanzt wie eine Ballerina.«
Sie lachten alle und gingen weiter.
»Die Zwillinge«, sagte Walja Borisowna.
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