Sibirisches Roulette
Nordseeküste. Mit Recht hatte sich Großväterchen darüber empört, denn hier ging es um das eigene Heimatland, um die Jahrhunderte alte Heimat am Tobol, die man ihnen wegnehmen und zerstören wollte. Um die Wälder und Felder, die Bäche und Seen ging es, um die Fische und das Wild. Das waren ihre Sorgen – und nicht, ob Hamburg drei Meter unter Wasser stehen, ob der Pol schneller schmelzen oder ob man in den Alpen nicht mehr Skifahren würde. Wofür kämpfte Jugorow? Für sie, die Russen, die man vertreiben wollte – oder für die Deutschen und was um sie herum ist? Korolew hatte in diesen vergangenen Tagen immer wieder eine alte Europakarte betrachtet und sie auch Schagin, Masuk und den anderen gezeigt. Da ist Hamburg, das da ist Holland, Belgien, Frankreich, Spanien. Dies alles soll im höher steigenden Meer verschwinden. Wieso jammert man darüber, wenn uns keiner beobachtet? Wer kümmert sich um uns? Wer hilft uns? Wer weiß überhaupt, daß es uns gibt? Warum redet Jugorow von Deutschland, wenn er Bomben legt, und nicht von uns? Aus Tallinn kommt er, von der Ostseeküste. War einmal Estland, hier auf der alten Karte steht es noch. Viele dort oben haben deutsch gesprochen, deutsch gedacht, deutsch gelebt, fühlten sich als Deutsche. Jugorow auch? Wuchs er in solchen Familien auf? Hießen sein Vater und sein Großvater auch schon Jugorow? Seine Registrierkarte sollte man mal sehen … sagte Filaret nicht, er käme aus Omsk?! Zwischen Omsk und Tallinn liegt eine halbe Welt …
»Ich brauche zwölf Sprengstäbe, einen Wecker und Kupferdraht«, sagte Jugorow ohne Einleitung.
»Nicht vorhanden«, antwortete Korolew abweisend.
»Dann besorg es! Dort, wo du die anderen Dynamitstäbe hergeholt hast.«
»Das Lager ist leer. Es waren die letzten.«
»Hat man dir erzählt, woher der Sprengstoff kommt?« erkundigte Schagin sich.
»Vor etwa einem Jahr fuhren vier Lastwagen mit Sprengstoffkisten von Tobolsk nach Tjumen. In der Nähe von Bolschaja Blinnikowa, nur dreißig Kilometer von Tobolsk entfernt, platzten dem letzten Wagen seine Reifen. Er fuhr noch an den Rand der Straße, die beiden Fahrer baten über Funk um Hilfe. Sie hatten nur einen Ersatzreifen dabei; wer hätte je daran gedacht, daß drei Reifen auf einmal platzen können. Doch als man aus Tobolsk einen Werkstattwagen schickte, suchte man die Verunglückten vergebens. Die Straße bis nach Tjumen fuhr man weiter, ein Riesenlastwagen kann doch nicht verloren sein – und doch war es so. In Luft hatte er sich aufgelöst, nie sah man ihn und seine beiden Fahrer wieder. Hubschrauber stiegen auf und überflogen weite Gebiete rechts und links der Straße – nicht die geringste Spur konnten sie finden. Wie Zauberei war's …«
»Hat uns auch Mühe genug gekostet«, sagte Korolew verschlossen. »Am schlimmsten waren die Hubschrauber. Als sie kamen, standen wir noch im Sumpf, mit dicken Zweigen bedeckt. Von oben muß es ausgesehen haben wie ein verfilzter Busch … Und im Sumpf ist der Wagen auch versunken, für alle Zeiten, spurlos.«
»Und die beiden Fahrer?«
»In ihrem Wagen waren sie, wo sie hingehörten.« Korolew verstand Jugorows entsetzten Blick. »Tot waren sie natürlich. Du glaubst doch nicht etwa, daß wir sie lebend in den Sumpf schickten …«
»Die ersten Toten. Dann folgten Masuks höllische Bombenattrappen, die Koffer, Kartons, Körbe, Kisten, Radioapparate – und Tote über Tote.«
»Woher weißt du's? Zwitscherten es die Vögelchen bis Tallinn oder Omsk?«
»Da war ich längst tief im Süden, in Usbekistan. Bei Tamdy, in der Kysyl-Kum-Wüste, sah ich mir die Gegend an, wo ein großer, neuer See entstehen sollte; in der Turanischen Niederung. Zum Stab der Geologen gehörte ich, trug die Meßinstrumente, die Meßlatten, die Aufzeichnungsbücher, war überall dabei. Damals verlor unsere Forschungsgruppe durch einen Großbrand alle Unterlagen, alle Pläne, alle Geräte, alle Kopien. Die Arbeit von zwei Jahren war vernichtet. Von vorn mußte begonnen werden.«
»Das ist keine Antwort«, sagte Korolew abweisend. »Um den verschwundenen Wagen geht's.«
»Filaret hat's mir berichtet.« Korolew und Schagin wechselten einen schnellen Blick, aber nicht verstohlen genug, um ihn vor Jugorow zu verbergen. »Alles, was du brauchst – hat er zu mir gesagt –, findest du in Lebedewka. Genug haben sie davon.« Jugorow sah mit einem Lächeln den vor ihm stehenden Korolew an. »Und jetzt ist alles leer? Einfach verschwunden? So, wie der Wagen mit
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