Sibirisches Roulette
Kopf. »Den Beweis haben wir jetzt, frei Haus geliefert. Ein Geständnis ist das! Aufruhr! Terror! Verrat! Genossen, dieses Dorf muß verschwinden, ganz und gar verschwinden.«
Die Karten mit dem durchgestrichenen Kanal schickte er sofort nach Moskau zum Ministerium, direkt zum Genossen Minister Nikolaj F. Wassiljew, und schrieb dazu die glühenden Zeilen: »Aufgrund dieser Tatsachen wäre zu überlegen, das Dorf Lebedewka sofort zu evakuieren und im asiatischen Teil unserer Republik anzusiedeln …«
Die nächste Informationsfahrt, die Niktin in die Wege leitete, verlief friedlich. Die Dorfbewohner von Tatjan, Plonawskoje und Tukalunsk erwiesen sich als sehr aufgeschlossen für seinen Vortrag, hörten gelassen und still zu, spendeten sogar Beifall, schienen alles, was Niktin ihnen vorführte, zu verstehen – ein voller Erfolg war's!
Versöhnt mit den Leuten vom Tobol kehrte er nach Nowo Gorodjina zurück und berichtete mit gebührendem Stolz, daß die Aufklärungsarbeit, so wie er sie angeregt hatte, ebenso wichtig sei wie die Vorarbeiten der Geologen und Vermesser. Nur Lebedewka machte Schwierigkeiten, war die Zentrale der Halunken. Ein Rattennest. Dagegen sollte es keine Mittel geben?
Natürlich wußte Niktin nicht, daß den Leuten in allen Dörfern, bevor er zu seinem Vortrag erschien, ein kurzes Schreiben von Filaret vorgelesen worden war. Darin ermahnte er alle Freunde, ruhig zu sein, freundlich zuzuhören, Beifall zu klatschen, ein patriotisches Lied zu singen – kurzum: potemkinsches Dorf zu spielen. Niktin sollte über kurz oder lang in seiner eigenen Sonne verbrennen.
Seine propagandistischen Aktivitäten brachten es mit sich, daß sein schönes Frauchen Maja Petrowna allein in Nowo Gorodjina herumsaß, sich schrecklich langweilte und vor Olga und Walja eine Modenschau vorführte mit eigenen Kleidern, Mänteln und Kostümen; neueste Kreationen aus Moskau und Leningrad – vor allem aus Leningrad, dem Mode-Paris der Sowjetunion. Bei den Schemjakins tauchte zwangsläufig die stille Frage auf: Woher hatte Niktin soviel Rubel, um das alles zu bezahlen? Sein Gehalt als Informationsleiter des Projektes Sib-Aral-Kanal entsprach in etwa dem Gehalt von Schemjakin, und Boris Igorowitsch wußte, was er sich leisten und nicht leisten konnte – auf keinen Fall einen Silberfuchsmantel, wie ihn die Niktina besaß.
»Einen Hintergrund hat jedes menschliche Geheimnis«, sagte er nach der Modenschau zu Olga, als sie beide im Bett lagen und er, wie jeden Abend, noch ein paar Seiten in einem Buch las. Seine Vorliebe galt historischen Romanen, die modernen Geschichten ärgerten ihn. »Bei Niktin sprudelt irgendwo eine unterirdische Quelle, und Maja Petrowna trinkt fleißig daraus. Auf solche Art wäre auch ein Niktin zu ertragen, ohne …«, er sah Olga liebevoll an, »… die Augen zuzumachen.«
»Wo kann man, sag mir das mal, in Tobolsk einfach so einen Haufen Rubel finden? Das gibt's doch nicht!«
»Ein Jahrhundertprojekt wie der Kanal ist eine unerschöpfliche Zapfstelle.« Schemjakin legte das Buch auf die Brust und blickte nachdenklich an die Decke. »Zement … jede Woche hundert Sack verschoben, wem fällt das auf bei dieser Menge Säcke? Aber es bringt Rubelchen. Moniereisen, Bretter, Balken, Ziegelsteine, Kalk, Dachpappe; alles, was ein Mann zum Hausbau braucht und worauf er Monate warten muß – da liegt's herum in den riesigen Lagern. Nur wegzukarren braucht man es, und für Rubel streckt sich immer eine offene Hand aus. Millionen gehen so im Land verloren. Nicht die Witterung frißt viele Pläne auf, nein, die Korruption. Und schlimmer wird's von Jahr zu Jahr. Den Alkoholmißbrauch wollen sie in Moskau stoppen, doch daran liegt es nicht. Die Beamten sollte man stoppen!«
»Und Niktin, glaubst du, ist einer von ihnen?«
»Hast du einen Silberfuchs? Trägst du ein französisches Modell? Warum reizt du mich nicht mit Spitzenunterwäsche? – Weil Boris Igorowitsch ein ehrlicher Mann ist. Mag dumm sein, sehr dumm, wo alle schieben – aber ruhiger lebe ich. Und auch Niktin kann keine Rubel zaubern …«
Maja Petrowna langweilte sich also – wer kann das nicht verstehen bei einem so hübschen, fröhlichen Weibchen mit rötlichem Haar und blitzenden Äuglein. Niktin hatte es abgelehnt, sie auf seine Vorträge mitzunehmen. Wußte man, wie's auslief? Gab es irgendwo ein zweites Lebedewka? Nicht auszudenken war's, wenn Maja Petrowna miterleben sollte, wie Niktin, ihr Kisschen, von barbarischen Individuen
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