Sibirisches Roulette
diskutierten und rechneten noch immer und wollten erst am nächsten Tag fliegen. Eine fahrbare Küche des Bataillons kam ins Baulager, um Suppe zu verteilen. Kohlsuppe, was sonst? Für jeden einen halben Teller. Gott sei's geklagt. »Gut fängt das an!« schrie Noskow, der Vorarbeiter, bei der Essensverteilung. »Heißes Wasser mit Kohlstückchen, die schwimmen lernen! Und morgen, he? Was ist morgen? Was gibt's da? Außer Furzen nichts gewesen! Dabei soll man arbeiten?«
Mit Bacharew flogen auch Niktin und Maja Petrowna weg nach Tobolsk. Niktin saß als gebrochener Mann im Hubschrauber, völlig entnervt, zumal ihm Bacharew gesagt hatte: »Nur unserer alten Freundschaft hast du's zu verdanken, daß man dich nicht fesselt. Verpflichtet wäre ich dazu. Aber du flüchtest ja nicht.« Niktin hatte den Kopf geschüttelt und war dem Weinen nahe.
Welch ein Irrtum, dachte er immer wieder. Welch ein Irrtum! Es wird sich alles aufklären. Entschuldigen werden sie sich bei mir. Maja werde ich wegjagen wie eine Küchenschabe. Aber bis dahin heißt es, Nerven zu behalten. Allerdings sah es nicht so aus, als ob Niktin solche Nerven besäße …
Maja hatte sich von allen verabschiedet, so, als verlasse sie einen schönen Sommerurlaub, girrte herum, gab allen Küßchen und war auch zu Jugorow gekommen, der seine Hunde mit mühevoll aufgeklaubten Überresten aus den Magazinen fütterte.
»Hast du Bacharew mit deiner Aussage überzeugt?« fragte er sie, als sie mit strahlendem Lächeln an seinem Hals hing und ihn dankbar abküßte.
»Nicht viel wollte er wissen. Aber ich werde zu ihm ziehen.«
»Gratuliere! Ich sag's ja: Ein Teufelchen bist du.« Jugorow befreite sich aus ihrer Umarmung. Wenn Walja das sah, waren wieder lange Erklärungen nötig. Ihre Eifersucht war nicht zu messen. Wenn es dafür Meßinstrumente gegeben hätte – der Zeiger würde durchdrehen. »Und Niktin?«
»Ins Gefängnis kommt er«, rief sie fröhlich. »Er soll Nasarow ermordet haben.«
»Das ist doch Blödsinn, Maja!«
»Mit einem Kissen hat er ihn erstickt. Er kann das Gegenteil nicht beweisen. Gesteht er, bekommt er nur zwei Jahre – weil die Tat im Affekt geschah, sagt Bacharew.«
»Jossif Wladimirowitsch ist unschuldig, das weißt du genausogut wie ich!«
»Aber beweis das mal!« Sie winkte Jugorow zu, rief noch: »Leb wohl, Igorenka!« und tänzelte davon, hüftenschwingend, auf schlanken Beinen, in einem kurzen Rock … Genossen, die Männer sind doch blöd!
Nach einem fürchterlichen Mittagessen, das allen einen Vorgeschmack davon gab, was man in den nächsten Tagen zu erwarten hatte, wenn nicht sofort aus Tobolsk neue Verpflegung und das nötigste Gerät für eine neue Küche kamen – noch bevor der große Herbstregen einsetzte und die Straßen durch das Sumpfgebiet am Tobol so gut wie unbefahrbar machte –, saß Jugorow in seinem Zimmer und trank mit Walja Borisowna die letzte Flasche Orangensaft, die er sich vor der Vernichtung des Magazins gekauft hatte.
Jugorow saß auf dem Bett und sah Walja zu, wie sie den Orangensaft mit Wasser verdünnte, so radikal, daß das Wasser zwar noch die blasse Farbe Gelb besaß, aber kaum noch nach Fruchtsaft schmecken konnte. »Die sparsame Hausfrau«, scherzte er, als er sein Glas getrunken hatte. »Immerhin: Die Illusion bleibt – ein erfrischender Trunk. Waljanka …«
»Igor?«
»Liebst du mich?«
»Wie kann ein Mann, der neben einem Mädchen auf seinem Bett sitzt, so dumm fragen?« Sie küßte ihn auf den Hals und legte den Arm um ihn. »Aber eines möchte ich wissen: Was ist mit dir?«
»Jetzt verstehe ich die Frage nicht.«
»Seit Tagen bist du anders … bedrückt, niedergeschlagen, fast scheu … Ist es wegen des Attentats? Wegen der Geiseln? Wegen Niktin? Allen gehst du aus dem Weg, sitzt im Hundezwinger, wo niemand dich erreichen kann … Mit Krasnikow und Meteljew sprichst du kaum noch …«
Wie ausgeprägt und fein ihr Gefühl ist, dachte Jugorow staunend. Wie ein Seismograph registriert es die kleinsten Schwankungen. So eng ist sie schon mit mir verbunden.
»Es ist wegen Krasnikow und Meteljew«, sagte er langsam. »Walja, ich frage dich noch einmal: Liebst du mich?«
»So unendlich wie der Himmel ist …«
»Auch, wenn ich dich belogen habe?«
»Du kannst nicht lügen, Igor. Mich kannst du nicht belügen.«
»Dann gib mir deine Hände!«
Sie reichte ihm ihre Hände, er umfaßte sie und hielt sie ganz fest. Sehr ernst war er auf einmal geworden, und Walja spürte mit einem
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