Sibirisches Roulette
Fleisch von Millionen Tonnen in Kühlhäuser hängt und nicht weiß, wohin damit – nur, um den Preis hochzutreiben und Geld zu scheffeln. Um sie herum hungern Millionen Menschen, werden Kinder zu Greisen, sterben zu Hunderttausenden auf der ausgetrockneten Erde. Und die Welt, diese Welt der Satten, Fetten, Reichen und Geldsammler sieht tatenlos zu und zermalmt mit Räumfahrzeugen ganze Ernten an Äpfeln, Tomaten, Pfirsichen und Salaten und Kohl und Eiern. Und die Völker zahlen auch noch für die Vernichtung, geben ihr hart verdientes Geld den Staaten, die mit Milliarden die Zerstörung finanzieren. Mit diesen Irren soll man Mitleid haben? Sie wollen Maßstab sein für uns? Mit nicht faßbarer Menschenverachtung zerwalzen sie wertvollste Nahrung – wir aber, wir Russen, werden mit einem Jahrhundertwerk die Not aus unserem Land für alle Zeiten vertreiben. Das gesegnete Land auf dieser Erde werden wir. Alle da draußen wissen das, und deshalb sind wir die Teufel für sie. Ob dieser ›Spezialist‹, dieser Blinde, das nie sieht? Für die Kapitalisten kämpft er, nicht für eine Klimaverschiebung der Erde. Ein Vorwand ist das nur …«
Jugorow unterbrach sie nicht, auch als sich Walja in ihre Worte hineinsteigerte und ihr Gesicht und ihre Augen zu glühen begannen. Recht muß man ihr geben in vielem, dachte er. Recht, was die EWG betrifft. Wer kann begreifen, daß Milliarden aufgewendet werden, um Lebensmittel zu vernichten? Daß in Afrika und Asien wirklich Millionen verhungern; Kinder, für die ein Apfel Leben bedeutet und denen ein paar Gramm Butter, ein Bröckchen Fleisch, ein Schüsselchen voll Mehl helfen würden, ihren mit pergamentiger Haut überspannten Knochen Kraft zum Weiterleben zu geben. Und dann stehen die vollgefressenen Funktionäre der EWG auf ihren Konferenzen herum, bis zum Rülpsen satt von den üppigen Buffets und bedauern … bedauern tatsächlich, daß alles nur ein Transportproblem sei: Wie soll man Frischgemüse in die Sahelzone bringen? Wie Tomaten oder Eier nach Bangladesch? Man hat ja keine Flugzeuge dafür. Auf dem Landweg wäre ja alles verdorben, bis es bei den Verhungernden ankommt. Und wer bezahlt das überhaupt? Da kosten doch die Lagerhäuser der EWG schon Milliarden, jedes Jahr. Ja, der Transport … Aber wenn es gilt, Bomben zu transportieren, dann gibt es jedesmal genug Fluggeräte. Und Flugzeuge sind immer da, wenn die Herren der EWG auf Informationsreisen gehen, mit Ehefrauen natürlich. Und Transportmittel gibt es in Fülle, wenn man die Nahrung, die ›aus dem Markt genommen wird‹, wie die Vernichtungsformel so nett im Beamtenjargon heißt, zusammenkarrt.
Vielleicht denkt man auch: Die Erde ist übervölkert, jetzt schon und im Jahr zweitausend rettungslos. Eine natürliche Auslese ist's, wenn hin und wieder Millionen verhungern. Das Gleichgewicht wird reguliert. So war's schon immer. Die Ausbreitung der Hygiene und die immer umfassendere Produktion von Medikamenten kommt wie ein Bumerang zu uns zurück … Es sterben zuwenig Menschen auf dieser Erde! Soll man dazu beitragen, daß noch mehr überleben?
Denken sie so, heimlich, nicht laut natürlich, und verstecken sich dabei hinter dem Transportproblem? Wer weiß das? Wer wagt das zu behaupten? Wer sieht in die Hirne? Nur eines sieht man: Daß es Wahnsinn mit Methode gibt. Daß das Geld wichtiger ist als der Mensch. Daß wir in einer Zeit leben, wo ein Mensch nichts mehr wert ist, sofern er nicht zu den Satten gehört, sondern zu den Hungernden. Der Satte wird nie begreifen, daß man Holz essen kann … fein geraspelt, mit Wasser gekocht zu einer leimigen Suppe.
Stalingrad ist vergessen …
Jugorow erhob sich. Die innere Unruhe war zu stark. Seine Aufgabe hier am Tobol war plötzlich nicht mehr getragen von der Notwendigkeit, Hamburg oder Bremen, Kiel oder Lübeck vor einer Umweltkatastrophe zu bewahren, den Skifahrern in den Alpen ihren Schnee zu lassen, den Holländern ihre Inseln und eingedeichten Neuländer zu retten, den Franzosen und Engländern ihre schöne Kanalküste zu erhalten. Und doch: Es traf immer wieder die Unschuldigen, die Gutgläubigen, die von Politikern angeführte Lämmerherde, die blökende Masse der Völker. Um Menschen und ihre Heimat ging es. Nur um Menschen, die in der kurzen Spanne ihres Lebens auch wirklich ›leben‹ wollten und die ertrinken würden, wenn die Meere stiegen. Nicht plötzlich käme die Katastrophe, als kippe die Erde um, sondern langsam, über Jahrzehnte hinweg …
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