Sibirisches Roulette
wir überfallen? Wo laufen die Skalps herum? Laßt uns den Marterpfahl aufrichten!«
Meteljew kletterte, als die kleine Wagenkolonne vorübergegangen war, aus dem Geäst des Baums, holte Noskows Fahrrad hervor und fuhr hinterher. Das war ein Fehler, zu früh gab er auf; denn kurze Zeit später spannte Beljakows Schwiegertochter ein Gäulchen in die Gabel eines flachrädrigen Wagens, Großväterchen ließ sich auf den Sitz heben, winkte seiner im Rollstuhl sitzenden Frau zu – die Enkel hatten sie vors Haus geschoben – und knurrte dann seine Schwiegertochter an: »Nun los. Gib die Peitsche! Von allein läuft es nicht, das Gäulchen. Alles muß man bei euch antreiben, zum Jammern ist's.«
Mit der Zunge schnalzte er, das Pferd spitzte die Ohren, gab einen zittrigen hohen Ton von sich und zockelte los. Großväterchen raufte sich die Haare.
»Geht's nicht schneller?« schrie er. »Kann sie nicht traben, die Mißgeburt? Stelzt daher wie ein lahmer Storch! Was ist denn? Was ist denn?«
»Rossana ist sechsundzwanzig Jahre alt. Großväterchen«, sagte die Schwiegertochter geduldig, in zweiundzwanzig Jahren Zusammenleben mit Beljakow abgestumpft und unempfänglich für seine Bosheiten. »Wenn du so alt bist, trabst du auch nicht mehr.«
»Mit sechsundzwanzig lief mir kein Weib davon …«
»Aber Rossana ist einhundertzweiundachtzig nach Menschenalter gemessen. Überleg das mal.« Sie sah den Alten prüfend an. »Bist jetzt schon wie einbalsamiert …«
Großväterchen verschlug es die Sprache; er spuckte auf den Pferderücken und überlegte, ob er seine Schwiegertochter verprügeln sollte. Das wiederum würde allerdings nur unnötige Verwicklungen mit seinem Sohn auslösen, also war man lieber still, schluckte auch diese Schmach und sah sich in seiner Überzeugung bestätigt, daß die neuen Generationen vor Weichheit wie Pudding zitterten. Der Untergang der Menschheit war nicht aufzuhalten. So Kerle wie er, der die Deutschen besiegt hatte, gab es nie wieder.
Eine halbe Stunde später fuhren sie vor dem Schwarzen Haus vor. Es war das erstemal seit neununddreißig Jahren, daß der alte Beljakow dieses verruchte Gebäude betrat.
Trofimow, der gerade zu seinen ausgelegten Reusen gehen wollte, blieb ruckartig stehen, als er die Karre mit dem müden, augentriefenden Gäulchen kommen sah.
»Verirrt hat sich einer!« schrie er sofort. »Hier ist die Hölle! Noch ist's nicht so weit mit dir, Beljakow!«
»Geh zu deinen Fischen, du Stinkkopf!« brüllte Großväterchen zurück, tief zufrieden, daß er wieder etwas von sich hören lassen konnte. Die schweigsame Fahrt an der Seite seiner Schwiegertochter hatte ihn sichtlich mitgenommen. »Ha! Sieht er nicht selbst aus wie ein glotzender Fisch? Paß nur auf und fang dich nicht selbst …«
»Latrinenputzer!« schrie Trofimow.
Ärger ging es nicht mehr. Großväterchen schnaufte, rollte die Augen und klammerte sich an seiner Schwiegertochter fest. »Wo ist mein Gewehr?« bebte er.
»Im Stall. Verrostet …« Sie stieg vom Bock ab, hob den Alten auf die Erde, und dann breitete sie die Arme aus und begann zu weinen. Andrej Nikolajewitsch, ihr Sohn, stürzte aus dem Schwarzen Haus und lief in die weit ausgebreiteten Arme.
Der Alte juckte sich die Nase, hielt ein Nasenloch zu, rotzte auf den Boden und strahlte seinen großen Enkel an.
»Mein Söhnchen«, sagte er ergriffen. »Umarme mich! Auch im Winter gibt es noch schöne Tage.«
Wer hätte gedacht, daß Großväterchen sogar poetisch werden konnte …
Am Sonntag machte sich Meteljew auf, um nach Lebedewka in die Kirche zu gehen.
Krasnikow tippte sich zwar an die Stirn, sagte spöttisch: »Der ›Spezialist‹ steht immer links vor dem Marienaltar und singt einen schönen Tenor …«, aber Meteljew blieb stur.
Noch drei Tage waren es bis zum Ablauf der Frist, die ihnen General Tjunin gesetzt hatte. Obgleich ihn Krasnikow immer wieder mit der Versicherung zu beruhigen versuchte, in Moskau sei es einfach, Ziele zu setzen; Ziele müsse man sehen, und der ›Spezialist‹ sei nun mal unsichtbar; man solle Tjunin einladen, nach Nowo Gorodjina zu kommen, um die wirkliche Lage zu erkennen – so ließ Meteljew sich davon nicht beeindrucken. Seine Hoffnung war es nach wie vor, Walja werde ihm den Weg zu den befreiten Geiseln zeigen.
»Ich fresse einen Regenwurm, wenn der ›Spezialist‹ nicht dort zu finden ist!« sagte Meteljew. »Benutzt hat man uns wie Werkzeuge und dann weggeworfen, und wir sind in diese Falle getappt
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