Sibirisches Roulette
Lebedewka?«
»Ein paar Aufgaben habe ich zu erledigen«, wich er ihrer direkten Frage aus. Er hob seinen Rucksack aus dem Gras und schulterte ihn. »Wo kann ich einige Tage wohnen? Wie heißt der Dorfälteste?«
»Korolew. Aber im Dorf wird man Ihnen kein Bett geben. Jeder Fremde ist jetzt verdächtig, nachdem die Soldaten Geiseln genommen haben.«
»Man hat Geiseln genommen?« Jugorows Miene veränderte sich schnell. Aus dem freundlichen Lächeln wurde ein harter Zug um den Mund.
»Zehn Männer und Frauen … Kamen wie ein Heuschreckenschwarm über Lebedewka, die Soldaten. Trieben alle auf die Straße, verprügelten sie, sogar Kyrill Vadimowitsch, unseren Popen. Ein Major war's, der die Geiseln aussuchte.«
»Und wohin hat man sie gebracht?«
»Nach Nowo Gorodjina, ins Baulager.«
»Nowo Gorodjina … da bin ich richtig angekommen.« Zufriedenheit klang aus Jugorows Stimme. »Schöne Elfe, genau dorthin wollte ich wandern.«
»Sie wollen dort arbeiten, Igor?«
»Vielleicht.«
»Mithelfen am Bau des Kanals?«
»Man wird sehen.«
»Gefährlich ist das. Vor zwei Tagen erst hat man den Damm gesprengt. Darum sind die Soldaten hier. Sie suchen die Saboteure. Aus den Geiseln wollen sie die Namen pressen. Igor, ziehen Sie weiter. Arbeiten Sie nicht am Kanal!«
»Sie haben Angst um mich, Soja?«
»Nein. Was geht mich Ihr Leben an! Nur eine Warnung soll's sein.« Und plötzlich fragte sie, als handele es sich um ein Geschäft: »Wollen Sie bei uns wohnen, Genosse?«
»Wenn es möglich ist … aber ja!«
»Pro Tag fünf Kopeken.«
»Das wären im Monat hundertfünfzig Kopeken, fast ein ganzes Monatsgehalt. Sehe ich so reich aus?«
»Wieso rechnen Sie einen Monat? Nur ein paar Tage sollten's doch sein, sagten Sie.«
»Man weiß nie, wie sich die Dinge entwickeln, Soja Gamsatowna.«
»Wenn Sie Arbeit am Bau gefunden haben, ziehen Sie doch um in das Lager. Zwei oder drei Tage werden Sie wohl bezahlen können.«
»Sicherlich.« Jugorow rückte den Schirm seiner runden Mütze tiefer ins Gesicht und schnallte sich den Rucksack auf den Rücken. Das Abendrot verblaßte jetzt sehr schnell, ein violetter Hauch lag über Wald und See, und in ein paar Minuten würde das Grau der heranschleichenden Nacht alles überdecken. »Können wir gehen?«
Sie nickte, ging ihm voraus, und er folgte genau in ihren Spuren, so daß nur ein Fußabdruck übrigblieb.
Nicht gerade entzückt war der alte Trofimow, als seine Tochter einen Fremden ins ›Schwarze Haus‹ brachte. Zum erstenmal seit dem Tod von Sojas Mutter kam Besuch in die Hütte, und Trofimow fragte sich, welcher Teufel in Soja gefahren sein mochte, daß sie solch einen Blödsinn machte. Er stand deshalb auch nicht von der Ofenbank auf, als Jugorow sich höflich vorstellte und Soja, als sei sie im Hirn verwirrt, sagte:
»Väterchen, Igor Michailowitsch wird ein paar Tage bei uns wohnen, bis man ihn in Nowo Gorodjina eingestellt hat. Er zahlt auch pro Nacht fünf Kopeken.«
»An den Kanalbau will er?« Trofimow musterte Jugorow wie eine Riesenwanze, die man gleich erschlagen mußte. »So etwas bringst du in unser Haus? Brennt dir der Kopf, Töchterchen?«
»Ich weiß noch nicht, was ich tue«, sagte Jugorow und stellte seinen Rucksack an die Holzwand. »Heute bin ich müde und habe Hunger. Über alles andere reden wir morgen. Ich bin Ihnen nicht willkommen, Genosse Trofimow?«
»Etwas Neues sind Sie, Igor Michailowitsch. Hier war noch nie ein Gast im Haus. Daran muß man sich erst gewöhnen.« Er blickte hinüber zu Soja, die sich am Herd zu schaffen machte, aus einer Blechdose Mehl holte, Wasser in eine Schüssel schüttete und zu rühren begann. »Er hat Hunger, Töchterchen. Haben wir genug zu essen da?«
»Es gibt Piroggen mit Fisch.« Sie drehte sich zu Jugorow um und zeigte mit dem Rührlöffel auf ihren Vater. »Gamsat Wladimowitsch hat sie gefangen, die Fische. Er weiß, wo es die besten Fische gibt. Warum stehen Sie noch herum, Igor?«
»Ich bin ein Gast, den Ihr Vater nicht will, Soja.«
»Als wenn's darauf ankäme.« Trofimow zeigte auf die Eckbank, streckte die Beine vor und wölbte die Lippen nach außen. Kein häßlicher Mann war er, wenn er sich rasiert und gekämmt hatte und in einem anständigen Anzug steckte – aber wie selten war das! Meistens lief er mit einem Stoppelbart von mehreren Tagen herum, das angegraute Haar umgab strähnig und zerwühlt seinen dicken Schädel, und immer sah er aus, als habe er bis soeben im Heu geschlafen und sei
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