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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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dem Schirm langsam bewegte. Wie schwerelos glitt sie von einem Schirm zum anderen, ein schwarzer Mantel auf weißem Grund, verschwand von dem einen und tauchte im anderen auf. Manchmal war sie auch, für den Bruchteil einer Sekunde, auf zwei Bildschirmen gleichzeitig, dann, ebenso flüchtig, auf keinem mehr, sie war verschwunden, und sofort war das seltsam und sogar ein wenig schmerzlich, sie fehlte mir, Marie fehlte mir, ich hatte das Verlangen, sie wiederzusehen. Dann tauchte sie wieder auf, sie war erneut im Bild, sie war in der Mitte eines Saals stehengeblieben. Ich war in den Raum und näher zum Bildschirm getreten, ganz nahe, die Augen nur wenige Zentimeter von seinem elektronischen Schimmer entfernt, und ich sah, wie sie die Augen zu mir hob, um einen neutralen Blick in Richtung der Überwachungskamera zu werfen, einen Moment kreuzten sich unsere Blicke, sie wußte es nicht, sie hatte mich nicht gesehen – und das war, als ob mir damit visuell bewußt geworden wäre, daß es mit uns zu Ende war.
    Taumelnd verließ ich den Kontrollraum, in meinem Kopf drehte es sich. Meine Augen brannten vom starren Sehen auf die Bildschirme, mir flimmerte es vor den Augen, ich ging zur jungen Angestellten der französischen Botschaft und bat sie, mir ein Taxi zu rufen. Ich mußte blaß im Gesicht gewesen sein, denn sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich verneinte, sagte, daß es mir nicht gut gehen würde, daß ich müde sei, sicher der Jetlag, und ich lieber zurückkehren und mich im Hotel ausruhen wolle. Ich hatte mich in einen Sessel fallen lassen und rührte mich nicht mehr, ich schwitzte stark in meinem dicken schwarzgrauen Mantel, ich sah, daß man mir verstohlen Blicke zuwarf. Die junge Frau kam zurück und sagte mir, man habe das Taxi gerufen, es käme gleich, fragte mich, ob ich begleitet werden wolle. Ich nickte leicht mit dem Kopf, sagte, ja, das wäre nett. Wir verließen zusammen das Museum, gingen unter prasselndem Regen die kleine Allee hoch, die zum Parkplatz führte. Der Parkplatz des Hotels war verlassen, übersät mit großen Pfützen, über die ein stürmischer Regen und Windböen fegten. Das Taxi drehte etwas entfernt im Regen seine Runden, unschlüssig, ohne auf den Parkplatz zu fahren. Die junge Frau schritt entschlossen und mit dem Arm winkend auf es zu in ihrem weiten nassen Mantel. Das Taxi hielt unter einem Baum, sie sagte einige Worte auf japanisch zum Fahrer, während ich im Wagen Platz nahm. Das Taxi fuhr los, und ich drehte mich um, ich sah ihre einsame Gestalt im Regen durch das beschlagene Rückfenster des Taxis. Ich wußte es noch nicht, aber es war das letzte Mal, daß ich sie sah.
    Aus dem Taxi gestiegen, fuhr ich sofort hinauf in mein Zimmer im 16. Stockwerk des Hotels. Das Zimmer war während unserer Abwesenheit aufgeräumt worden und hatte, nachdem unsere hundertvierzig Kilo Gepäck verschwunden waren, wieder das Aussehen eines normalen Hotelzimmers bekommen. Die Betten waren gemacht, die Vorhänge aufgezogen, und ein graues, farbloses Dämmerlicht drang in den Raum. Die Kleidung, die wir auf dem Boden hatten herumliegen lassen, war zusammengelegt, die weißen Socken mit rot-blauen Streifen, als kleine Häufchen irgendwo auf dem Teppichboden liegengelassen, waren zusammengesucht und liebevoll auf den Frisiertisch gelegt worden. Das Zimmer war überheizt, und ich drehte die Heizung herunter, ich wollte das Fenster weit aufmachen, doch der Fensterflügel war verriegelt. Wenn man an einer vertikalen Glasplatte zog, ließ es sich allenfalls zwei oder drei Zentimeter öffnen, ich mühte mich mit aller Kraft an einem Sicherheitshebel mit Gelenk, um das große Glasfenster noch weiter zu öffnen, aber es war vergebens. Ich legte mich aufs Bett, ich konnte nicht mehr. Ich hatte meinen Mantel nicht ausgezogen und badete nun in meinem Schweiß, ich fühlte mich fiebrig, meine Nase war zu, ich schniefte, ich stand regelmäßig auf, um mir im Bad die Nase zu putzen. Irgendwann des Hin-und-Hergehens leid, nahm ich die Rolle Toilettenpapier mit ins Zimmer und legte sie auf den Nachttisch. Unablässig schneuzte ich mich, auf dem Bett liegend, um mich herum türmte sich eine Kollektion von zusammengeknüllten Toilettenpapierschnipseln, ein Wust zerknüllter Kügelchen, die sich auf dem Teppich anhäuften. Dort verbrachte ich den ganzen Vormittag. Ich versuchte die Augen zu schließen und zu schlafen, aber ich konnte nicht schlafen, ich war viel zu aufgewühlt. Im Bett auf dem Rücken liegend,

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