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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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etwas zu fragen oder das Wort an sie zu richten, und sie konnte sich ihren Gedanken überlassen, als wäre sie allein im Museum. Wir folgten ihr in einiger Entfernung, sprachen mit leiser Stimme, eingeschüchtert sowohl durch die Weite der leeren Säle, die wir durchquerten und in denen unsere Schritte auf dem Parkett hallten, als auch durch die starke, entschlossene und schweigende Gegenwart Maries vor uns. Nahezu dreihundert Quadratmeter Ausstellungsfläche, verteilt auf vier Säle (A.B.C.D.), jeweils unterschiedlich, zwei rechteckig, einer fünfeckig und einer achteckig, der kleinste sechzig Quadratmeter groß, der umfänglichste hundertzehn Quadratmeter. Alle weiß und leer, beeindruckend in ihrer Nacktheit, in ein schummriges Licht getaucht, das von feinen Öffnungen im Dach herkam, durch die ein von schweren Regenwolken verhangener grauer und stürmischer Himmel zu sehen war. Zur Geltung gebracht wurde die Einrichtung durch eine raffinierte Anlage aus künstlichem Licht, oben an den Wandleisten angebrachte schwenkbare und durchscheinende Zylinder, deren Glühlampen das warme bernsteinfarbene Licht der traditionellen japanischen Laterne ausstrahlten.
    Marie war in der Mitte des großen Saals stehengeblieben. Sie hatte ein Blatt aus ihrem Kalender gerissen und, sich des Deckels als Schreibunterlage bedienend, allein im Raum stehend (ich als einziger machte einige Schritte in ihre Richtung, die anderen blieben an der Schwelle stehen und drehten sich um, machten unauffällig eine halbe Kehrtwendung, um sie allein zu lassen), fertigte sie Skizzen an, einen groben Plan der Räumlichkeiten, Rechtecke zur Darstellung der Räume, Vierecke, Pfeile, die ich nicht entziffern konnte. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf und dachte nach, prüfte die Wände, wie um sich davon inspirieren zu lassen, und vervollständigte ihre Skizze, verband einen Pfeil mit einem Wort in Großbuchstaben, das sie ein- oder zweimal unterstrich. Ich verließ den Raum und gesellte mich zu den anderen in der Halle. Der Direktor bat uns in den ersten Stock, wir überquerten einen Glassteg über der Halle und traten in einen unbestimmten Raum ein, der eine riesige unsichtbare Bibliothek beherbergte aus Ausstellungskatalogen und Kunstzeitschriften, die in langen japanischen Schubladen aus hellem Holz untergebracht waren, die der Direktor nacheinander lässig vor uns öffnete, um uns das Ordnungsprinzip zu demonstrieren. Ich sah ihn diese Schubladen nach Art eines trägen Zauberers öffnen und schließen und dachte an anderes (ich war müde, ich fühlte mich fiebrig).
    Wir waren in den Salon neben dem Eingang zurückgegangen, einige hatten Platz genommen, um Tee zu trinken oder zu plaudern, andere waren stehengeblieben und blätterten nachdenklich in Katalogen. Ich ging im Zimmer umher und betrachtete die Plakate der Ausstellungen des Museums, dann steckte ich rasch den Kopf in den Kontrollraum, in dem ein junger Mann, mit dem Rücken zu mir, an einem Computer arbeitete. Der Raum war kaum erleuchtet, voller Kontrollämpchen und Schalthebel, er erinnerte an ein Mischpult oder einen Bildschnittisch in einem Multimediastudio, mit seinen Kontrollbildschirmen von über einem Dutzend Überwachungskameras, die stehende Aufnahmen in Schwarz und Grauweiß wiedergaben. Beim prüfenden Blick über das Ganze begriff ich, daß die Bildschirme der oberen Reihe den Kontrollkameras entsprachen, die die unmittelbare Umgebung des Museums filmten, zwei waren an der Außenpforte angebracht, sie übertrugen verschneite Bilder des menschenleeren Wegs zum Teich, und zwei am Eingang, wobei die eine zum Park im Regen hin gedreht war, die andere zur Eingangshalle in schwarzem Marmor, mit jenem feststehenden Bild, das charakteristisch ist für jene Art Draufsicht, bei der die im Bild erscheinenden Personen häufig wie spätere Opfer oder potentielle Tote erscheinen.
    Die andere Reihe von Bildschirmen verblüffte durch ihre extreme Strenge, die acht Monitore zeigten sehr helle weiße Bilder, die auf den ersten Blick für perfekte hypnotische monochrome Bilder durchgehen konnten, doch dann ließen sich, sobald das Auge auf Einzelheiten verweilte, Ecken, Kanten und Sockelleisten unterscheiden, und man erkannte, daß es sich um unterschiedliche Ansichten der menschenleeren Ausstellungsräume des Museums handelte. Starr blickte ich auf diese Reihe weißer und leicht flimmernder Bildschirme, als ich plötzlich Marie im Bild auftauchen sah, eine einsame Silhouette, die sich vor mir auf

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