Sich vom Schmerz befreien
Hirnforscher Gerhard Roth in seinem Buch Fühlen, Denken, Handeln - Wie das Gehirn unser Verhalten steuert , wenn er von Bewusstsein spricht, »alle Zustände, die von einem Individuum erlebt werden«. Durch die Möglichkeiten der Hirnforschung hofft man zwar, Bewusstsein objektiv fassen zu können, ist sich aber auch darüber einig, dass dies in Anbetracht der Komplexität des Gehirns und dessen Individualität ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Letztendlich kommen alle Untersuchungen und Ãberlegungen zu der Schlussfolgerung: Bewusstsein und Nichtbewusstsein sind völlig subjektive Erscheinungen und auch nur der eigenen Selbsterfahrung zugänglich.
Dies berücksichtige ich auch in der Abbildung auf Seite 51, beziehe jedoch Bewusstsein nicht nur auf das Verhalten »Wahrnehmung«, sondern auf alle Ebenen, in denen Verhalten in Erscheinung tritt. Dies betrifft neben der Wahrnehmung auch gedankliche, emotionale und körperliche Vorgänge (hier
vor allem die Muskelaktivität). In einem bestimmten Moment ist das Verhalten bewusst, das (direkt oder indirekt) der willentlichen Kontrolle zugänglich ist! Natürlich spielt Wahrnehmung insofern eine Hauptrolle, als das Ausmaà der bewussten Kontrolle von Gedanken, Gefühlen und Körperbewegungen von ihr abhängen: Ein Bereich des Nervensystems kann sein Verhalten erst ändern, wenn er wahrnimmt, dass und wie er es produziert. Andererseits hängt die Wahrnehmung von der Muskelaktivität ab (siehe Abb. S. 29). Dies ist ein zentrales Problem im Rahmen kommunikativer Schmerztherapie, das uns noch beschäftigen wird.
Da in unserem Verständnis jeder Verhaltensvorgang in das Zusammenspiel aller Bereiche des Nervensystems integriert ist, enthalten auch Krankheit, Schmerz und Spannung stets unbewusste und bewusste Anteile. Dabei sind es die unbewussten Spannungsvorgänge, die Krankheit und Schmerz zum Problem machen. Sie sind jedoch der bewussten Kontrolle nicht so weit zugänglich, dass dadurch der Krankheitsprozess dauerhaft positiv verändert werden könnte. Dem Patienten steht kein alternativer »Weg durch den Schnee« zur Verfügung (siehe S. 33 f.), er ist in einer Teufelsspirale gefangen. Selbst Spannungen, die zunächst bewusst sind, können auf diese Weise zur Gewohnheit, zur »zweiten Natur« und somit unbewusst werden. Kommunikative Therapie hat das Ziel, dem Organismus zu helfen, das ihm unbewusste Spannungsverhalten bewusst werden zu lassen, sodass er lernen kann, aus der Spirale ins »Gleichgewicht« zu finden und Krankheit und Schmerz zu überwinden. Zwei Kommunikationswege stehen dafür zur Verfügung.
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Der erste Weg ist die direkte Kommunikation mit dem unbewussten System des Patienten, in der Abbildung dargestellt durch den dicken Doppelpfeil zwischen dem bewussten Verhalten des Therapeuten und dem unbewussten Verhalten des Patienten. Bezogen auf die Abbildung auf Seite 29 sind damit Informationen
gemeint, die direkt vom Körper bzw. der Muskelaktivität erhalten bzw. an sie gegeben werden. Sie betreffen die unmittelbare Steuerung der »unbewussten« Ebenen des Nervensystems - Rückenmark und vegetatives Nervensystem. Hier finden »manuelle Methoden« ihre Anwendung, und damit meine ich Techniken, die durch Berührung dem Nervensystem des Klienten Informationen über sein Spannungsverhalten geben. Kritiker sprechen hier spöttisch von »Handauflegen«, man könnte es aber auch »manuelles Biofeedback« nennen. Und schon sind wir mittendrin in einem »Grabenkampf« zwischen Gegnern und Befürwortern, zwischen »Schulmedizinern« und »alternativen Medizinern«. Doch ich möchte mit diesem Buch zeigen, dass sich hier lediglich zwei kategoriell verschiedene Weltbilder gegenüberstehen, die beide »richtig« sind und generell nicht miteinander verglichen werden können. Sie können sich jedoch zum Wohle der Patienten wunderbar ergänzen - das ist jedenfalls meine Erfahrung nach mehr als 20 Jahren therapeutischer Praxis. Mehr darüber erfahren Sie in Kapitel 4. Vorab aber schildere ich Ihnen das Beispiel einer einfachen Form manueller Kommunikation:
Die Mutter eines ängstlichen und weinenden Babys legt sanft, schützend und liebevoll ihre Hand auf seinen Körper, woraufhin es sich beruhigt, entspannt atmet und vielleicht sogar einschläft. Vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein, kommuniziert sie so
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