Sichelmond
Tallwitz.
»Tabitha, bist du hier?«, flüsterte Mayers vorsichtig.
Tabitha stand direkt neben ihm und wusste nicht, wie sie ihm antworten sollte. Also nahm sie kurzerhand einen Blumentopf, der auf dem Tresen neben dem Pförtnerbüro stand, und warf ihn auf die Erde, wo er lautstark zerschellte. Mayers und Tallwitz beobachteten auf dem Bildschirm fasziniert, wie der Topf zu Boden fiel, ohne dass von Tabitha etwas zu sehen war.
»Ja, ist gut. Ich hab verstanden«, sagte Mayers. »Tabitha, ich glaube, dass du hier bist. Aber du musst dir eine neue Technik ausdenken, wie du uns das zeigen kannst. Sonst geht noch alles im Polizeipräsidium zu Bruch.«
Gemeinsam gingen sie zum Wagen. Und auch hier blieb Mayers plötzlich stehen. »Tabitha«, sagte er wieder, nachdem er sich umgeschaut und vergewissert hatte, dass kein Kollege auf dem Parkplatz stand. »Fährst du jetzt eigentlich mit uns mit? Oder … Ich meine … Entschuldige, aber schwebst du vielleicht in den Park? Oder kommst du mit Telepathie dorthin? Oder beamst du …«
Tabitha verdrehte nur die Augen. Sie riss die hintere Autotür auf und setzte sich hinein.
Mayers sah die Tür, wie sie sich von Geisterhand öffnete und kurz darauf wieder schloss, und blickte etwas betroffen. »Entschuldige, wenn ich dich beleidigt haben sollte … ich …«
Tallwitz mischte sich ein: »Du siehst nicht be-geistert aus«, wagte er einen Wortwitz.
Und Mayers wusste zu kontern: »Bin auch eher ent-geistert.«
Tabitha saß auf dem Rücksitz und war erleichtert, dass die beiden Männer diese ungewöhnliche Situation endlich mit Humor nahmen. Das machte ihr Mut.
Denn noch immer war sie von Angst getrieben. Von ihrer Angst um Rouven.
Und sie wusste nicht, wie die Polizisten ihr helfen konnten.
E s mussten Stunden sein, die Rouven auf dem Boden gelegen hatte. Die ersten dünnen Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch das Fensterbild in die Kapelle. Rouven lag inmitten der unzähligen Kerzen, die inzwischen erloschen waren, auf der Seite und wusste sich keinen Rat. Immer und immer wieder hatte er in den vergangenen Stunden seine Situation durchdacht. Immer und immer wieder Jachaels Worte wiederholt.
Für Rouven gab es kaum Alternativen. Stellte er sich Jachael nicht, dann würde er die Seelenschützer töten. Daran gab es keinen Zweifel. Jachael würde die Halle der Seelen stürmen und die Seelen dort mit sich nehmen. Er würde sie verderben. Ihnen seinen Willen aufzwingen und die Welt zu einem Ort des Schreckens machen. Die noch verbliebenen guten Menschen würden untergehen in all dem Hass und der Gewalt, die ihnen bevorstand. Sie müssten den Kampf allein angehen. Ohne die Hilfe und Unterstützung der Seelenschützer.
Rouven musste sich Jachael also im Kampf stellen. Doch vermutete Rouven, dass er kaum eine Chance haben dürfte. Jachael hatte sich vorbereitet. Das war eindeutig zu erkennen gewesen. Noch nie hatte er seine Kräfte in diesem Maß beherrscht und eingesetzt. Er war gestärkt.
Und Rouven? Er hatte sich seit Jahren nicht mehr in eine Krähe verwandelt. Hatte jahrelang seine Kräfte nicht eingesetzt. Er würde ein wunderbares Opfer abgeben für Jachael. Und damit die Halle der Seelen gefährden.
Vor Rouvens geistigem Auge erschien das Gesicht von Tabitha. Rouvens Herz setzte aus bei dem Gedanken an sie. Ob es wirklichmöglich war, sie zu retten? Er bezweifelte eigentlich, dass Jachael die Kräfte dazu besaß. Keiner von ihnen konnte Tote wiedererwecken. Doch Rouven konnte sich vorstellen, dass der Fluch brach, wenn Jachael den Kampf verlor. Sicher war nur, dass Jachael Nana und Tabitha in ihrer untoten Gestalt belassen würde, wenn Rouven sich nicht zum Kampf stellte.
Vor allem aber: Was mit ihnen geschehen würde, wenn Rouven einen möglichen Kampf gegen Jachael verlor, das wollte er sich nicht ausmalen.
Rouvens Gedanken drehten sich im Kreis. Wie immer er sich entscheiden würde, er war sicher, das Falsche zu tun.
Er seufzte. Inzwischen hatte sich die Kapelle mit weiterem Sonnenlicht gefüllt. Einige Strahlen erreichten jetzt auch Rouven, und es tat ihm gut, diese sanfte Wärme zu spüren. Langsam setzte er sich auf, noch immer in Gedanken versunken. Er blickte zu dem Fensterbild an der Wand. Er sah sich, triumphierend über Jachael. Er sah die Zeichen, die Symbole des Wächters über die Halle der Seelen. Und er sah die menschlichen Seelenschützer am Rand des Bildes stehen. Seine Mitstreiter. Seine Verbündeten.
Sie waren nur als
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