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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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verschwommene Gestalten in das Bild eingearbeitet worden. Graue Figuren am Rand des Geschehens. Doch Rouven erinnerte sich noch an jeden Einzelnen von ihnen. Damals, vor über tausend Jahren, hatte Jachael ebenfalls versucht, Rouven zu schwächen, indem er die Seelenschützer entführt hatte. Doch zu dieser Zeit war Rouven noch Herr über all seine Fähigkeiten. Und so war es ihm schließlich gelungen, Jachael zu besiegen und die Menschen zu befreien.
    Die Seelenschützer.
    Rouven erhob sich nachdenklich, ohne den Blick von dem Bild zu nehmen. Aus seiner Erinnerung heraus legten sich die Gesichter von einst über die grauen Figuren auf dem Bild. Und dann verschwanden sie. Ein neues Gesicht erschien. Ein einziges nur. In der Kontur der äußersten Figur entstand das Gesicht von Nana. Die Seelenschützerin.
    Nachdenklich ging Rouven noch einen Schritt weiter auf das Bild zu. Die Seelenschützer! Die Familien. Die verschwundenen Ehepaare.
    Und mit einem Mal wusste Rouven, was zu tun war. Plötzlich wusste er einen Ausweg aus seiner Situation: Er musste die letzte Familie finden. Die letzten beiden Seelenschützer, die sich noch nicht in Jachaels Gewalt befanden.
    Wenn es ihm gelang, noch vor der letzten Neumondnacht, in der Jachael zuschlagen wollte, diese Familie ausfindig zu machen und an einen geheimen Ort zu führen, dann konnte Jachael seinen Plan nicht ausführen. Dann war die Gemeinschaft der Seelenschützer nicht verwundbar.
    In Rouven erwachte der Kampfgeist. Das Leben kehrte in ihn zurück. Und mit etwas Hoffnung im Herzen rannte er aus der Kapelle.

T abitha! Nana!« Rouven brüllte ihre Namen bereits in dem langen Gang, der zur Halle des Wasserwerks führte. »Seid ihr da?«
    »Michael.« Nana strahlte ihn begeistert an. »Schön, dass du da bist. Wo ist denn deine Familie?«
    Rouven freute sich auch, sie zu sehen. Doch zum ersten Mal, seit sie sich kannten, fiel es ihm schwer, die Rollen zu spielen, die sie ihm gab. Jetzt, mit all dem Wissen um die Wahrheit.
    »Die Familie konnte nicht mitkommen«, log er ihr vor. »Ich bin allein hier.«
    Sie lächelte. »Na, das macht doch nichts. Tee?«
    »Gern.«
    Er seufzte. Er wusste nicht, wie er vorgehen sollte. Er blickte Nana hinterher, wie sie zu dem Bollerofen ging, dann plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Jetzt, wo er all sein Wissen wieder in sich trug, da könnte es doch sein   …
    Hastig rannte er in seine Ecke. Unter der Matratze fischte er das alte Buch hervor. Das Buch, das Tabitha ihm in der letzten verwüsteten Wohnung ausgehändigt hatte. Jachael hatte es ihr gegeben, wie Rouven nun erahnen konnte.
    Nervös öffnete er es auf der Doppelseite in der Mitte. Silbern schimmerte es ihm entgegen. Diese beiden Buchseiten waren bisher das größte Geheimnis für Rouven gewesen. Doch jetzt wusste er, wofür er sie gebrauchen konnte. Durch sie konnte er das Leben auf der Welt betrachten, wenn er sich in der Halle der Seelen befand. Leider nur konnte er diese Seiten nicht umgekehrt nutzen. Er hätte sich außerordentlich gefreut, nun einen Blick in seine geliebte Halle derSeelen zu werfen. Es wäre ihm wie ein Trost vorgekommen in diesem Moment.
    Er blätterte vor und schlug eine der ersten Seiten in dem Buch auf. Tatsächlich, es war ihm jetzt auch wieder möglich, diese Schrift zu entziffern. Die sumerische Keilschrift, die über ihn berichtete.
    Rouven überflog die Zeilen. Er suchte nach etwas, das ihm helfen konnte.
    Doch er las nur Dinge, die er bereits wusste. Von ihm als Krähe war die Rede, als Wächter über die Halle der Seelen. Von den Seelenschützern war die Rede. Von den zwölf Paaren, die unerkannt auf der Erde lebten und sich um das Wohl der Menschen sorgten. Von Generation zu Generation gaben sie ihre Aufgabe weiter.
    Auch Rouvens Wiederkehr alle sieben Jahre war in dem Buch verzeichnet.
    Schließlich fand er die Stelle, in der über Jachael berichtet wurde. Doch zu Rouvens Enttäuschung erfuhr er nichts, das ihm weiterhelfen konnte. Alles nur Dinge, die er bereits kannte und wusste, von ihrem immerwährenden Kampf, Jachaels stierhaften Gestalt und seinem Hass auf die Seelen war die Rede.
    Rouven seufzte erneut. Er musste anders vorgehen.
    Aus Nanas Ecke hörte er Gesang. Nana stimmte wieder ihre Melodie an.
    Und wenn es mir gelingt, ihr Gedächtnis zu wecken?, schoss es ihm durch den Kopf. Dann erfahre ich vielleicht den Namen der verbliebenen Familie.
    Er stand auf und ging zu ihr.
    Sie stellte den Teekessel auf dem Bollerofen

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