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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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jedem hier sein Leben getauscht. Selbst mit der grauen Katze, die am Ende der Straße den Bürgersteig entlanglief.
    Rouven blickte zu dem Haus, in dem Tabitha wohnte. Hier würde er heute Nacht keine Antworten auf seine Fragen erhalten. Auf keinen Fall war es ihm möglich, unerkannt in das Haus einzusteigen.
    Vorsichtig entfernte sich Rouven wieder von dem Wagen der Polizisten, und als er um die Ecke bog, rannte er schon los. Es gab noch einen Ort, an dem er nach Antworten suchen konnte. Der Weg dorthin kostete ihn zwar über eine Stunde, doch die Zeit war nicht verschenkt. Während er dorthin eilte, konnte sich Rouven einen Plan zurechtlegen. Denn dass er jetzt, mitten in der Nacht, noch jemanden in der Tafel antraf, das schied völlig aus. Im Laufen beschloss Rouven, durch die Hintertür einzubrechen und einen Zettel zu hinterlegen. Er wollte einen Brief schreiben, in dem er die Helfer der Tafel bat, ihn im Gefängnis zu besuchen. Auch, wenn ihm dieser Einbruch weiteren Ärger einbringen konnte, wollte Rouven solch ein Treffen haben. Die Helfer der Tafel mussten ihm einfach sagen, ob sie bei seinem letzten Besuch Tabitha gesehen hatten oder nicht. Einer, nur ein einziger Zeuge reichte aus, damit Rouven an sie glauben konnte. Und allein das wäre alle Mühe dieser Nacht wert gewesen.
    Doch groß war die Enttäuschung, als er die Lindenallee erreichte. Denn auch hier waren Polizisten vor der Tafel postiert. Sie saßen gegen die Schaufensterscheibe des dürren Gemischtwarenhändlers gelehnt und unterhielten sich: zwei Polizisten, von denen Rouven glaubte, wenigstens einen auch am Tag der Festnahme gesehen zu haben.
    Rouven wunderte sich. Sie alle vermuteten ihn doch in seiner Gefängniszelle. Warum saßen sie hier? Worauf warteten sie? Hofften sie, einen Komplizen Rouvens zu ertappen? Oder bewachten sie lediglich routinemäßig die Tatorte?
    Rouven stöhnte auf. Jeder seiner Versuche, eine Antwort zu finden, endete stets in immer neuen Fragen. Je mehr er versuchte, das verworrene Knäuel zu lösen, desto mehr stieß er auf weitere Knoten. Ihm drehte sich alles.
    Es hatte keinen Zweck. Er musste aufgeben. Auf keinen Fall konnte er sich hier erwischen lassen. Er wandte sich um und lief zurück zum Polizeigebäude. Er nahm den Nebeneingang, durch den er zuvor das Gebäude verlassen hatte. Beinahe mechanisch ließ er die nötigen Abläufe geschehen: Chipkarte durch den Schlitz, Öffnen der surrenden Tür, mit gemäßigtem Schritt durch die Flure, die Treppe hinauf und in das Büro gegenüber, wo noch immer die Tür offenstand. Rouven schlüpfte aus seiner Uniform und tauschte sie gegen seine eigene Kleidung.
    Dann betrat er das Vorzimmer zu seiner Gefängniszelle. Bertoli empfing ihn erleichtert.
    »Du kommst wirklich!«, hauchte er hervor. Er wirkte völlig aufgerieben, mit hochrotem Kopf und dicken Schweißflecken unter seinen Armen. Er hatte wohl mehr um Rouvens Rückkehr gebangt, als Rouven das geahnt hätte.
    »Versprochen ist versprochen«, erwiderte Rouven.
    Bertoli packte ihn mit einem knappen »Ja, ja« am Arm und schob ihn zurück in die Zelle. Er atmete hörbar auf, als die Tür ins Schloss fiel. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Warst du wenigstens erfolgreich?«, fragte er.
    Rouven schüttelte den Kopf. Die Anspannung der letzten Stunden wich nun dem schmerzhaften Gefühl endgültiger Enttäuschung.
    Bertoli verstand sofort. »Das tut mir leid für dich, Junge«, sagte er, und Rouven glaubte ihm.
    Er setzte sich auf die Kante seines Zellenbettes, und wie schon so oft in den vergangenen Wochen stützte er die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf auf die Fäuste. Er blickte zu Boden und versank augenblicklich in seine Grübeleien.
    Nun hatte er noch mehr Fragen, die ihm durch den Kopf gingen.
    Und er fühlte sich einsamer als zuvor. Mühsam versuchte er, nicht mehr an Tabitha zu denken. Er versuchte, diese Fantasie aus seinem Kopf zu bekommen.
    Doch es wollte nicht gelingen.
    Sie fehlte ihm.
    Auch, wenn es sie wohl gar nicht gab.



E r war überrascht. Von sich selbst. Von seiner Gelassenheit. Oder war dies eine neue Stufe auf dem Weg zum Wahnsinn?
    Er wunderte sich, wie er so ruhig hier liegen konnte   – mit dem Geschmack trockenen Blutes im Mund, mit einer schmerzenden Wunde in seiner Hüfte und dem Gefühl kalter Fliesen unter seinem Körper. Die Gewissheit erfasste ihn schnell. Er wusste sofort, wo er sich befand. So langsam, wie er zu sich gekommen war, so

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