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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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gelassen war auch das Wissen erwacht. Das Wissen, dass es sich um den Morgen nach einer Neumondnacht handeln musste.
    Und nicht nur das. Er hatte nun auch Gewissheit über seine ohnmächtige Lage. Nicht einmal die Gitterstäbe hatten diesen Moment verhindern können. Nicht einmal die Mauern des Gefängnisses hatten ihn davor bewahrt, hier aufwachen zu müssen, in einer sicherlich verwüsteten Wohnung.
    Die Erkenntnis tat weh. Doch gleichzeitig vermittelte sie Rouven auch, dass es unsinnig war, weiterhin dagegen anzukämpfen. Was immer auch mit ihm geschah, warum auch immer er in diesen Neumondnächten in die Häuser einbrach und die Eigentümer verschwinden ließ   – er war völlig außerstande, sich dagegen zu wehren.
    Nicht einmal Mayers und Tallwitz mit ihren meterdicken Gefängnismauern, ihren Waffen und ihrer Überwachungs- und Sicherheitstechnik rund um das Polizeigebäude hatten Rouven retten können. Wieder erwachte er hier, in einer fremden Wohnung.
    Er schlug die Augen auf. Es hatte schon etwas Vertrautes   – dieser Blick auf die demolierten Schränke und die zertrümmerten Sessel. Auf die von Feuer schwarz verkohlten Stellen an den Wänden knappüber der Fußleiste und die eingeschlagenen Fernseher und Audiogeräte. In Rouven wollte sich kein Schrecken einstellen. Nicht einmal, als er sich zur Tür wandte und dort das eingebrannte »E« entdeckte, mit der Vogelkralle und dem Sichelmond darüber, verspürte er keinerlei Entsetzen mehr.
    Langsam richtete er sich auf. Das Dröhnen in seinem Kopf und die Schmerzen in seinem Körper grüßten ihn wie alte Bekannte. Mehr aus einer Art Verpflichtung dieser Situation gegenüber begann er, sich noch einmal intensiver umzuschauen. Doch es gab in diesem Zimmer nichts, das seine Aufmerksamkeit erforderte. Nichts, das sich von den Anblicken der Verwüstungen in den früheren Wohnungen unterschied.
    Dennoch war es Rouven ein Bedürfnis, sich in dem Haus umzusehen. Er wollte sicher sein, dass sich wirklich niemand mehr hier befand.
    Er stieg über einen Sessel hinweg, der mitten im Raum auf der Seite lag, und ging aus dem Zimmer. Wie schon so oft zuvor fühlte er sich beinahe, als schreite er von einer Welt in eine andere, als er aus dem Chaos dieses Zimmers in die Ordnung und Sauberkeit der anderen Räume trat. Flur, Küche, Bad   – alles war so, wie Rouven es erwartet hatte. Es gab keinerlei Anzeichen eines Kampfes.
    Er ging hinauf in das obere Stockwerk. Fünf Zimmer, von denen jedes einzelne da lag, als warte es auf die Rückkehr der Bewohner. Rouven schritt durch jeden einzelnen Raum: ein Bad, zwei Schlafzimmer, zwei Arbeitszimmer. Computer und Handys befanden sich in den Zimmern, ja sogar das Schmuckkästchen in einem der Zimmer sah unberührt aus. Wer hier eingebrochen war, dem ging es nicht darum, jemanden auszurauben.
    »Ich mache mir wohl nichts aus Geld«, seufzte Rouven. Und es fiel ihm auf, dass diese Wohnung bei Weitem nicht so luxuriös war wie einige der anderen, in denen er erwacht war. Der Wunsch, endlich zu verstehen, warum er diese Verbrechen beging, wurde wieder übermächtig in ihm. Sein Gewissen erdrückte ihn beinahe. Es tat ihm soleid, was er diesen Menschen antat. Und er hoffte inständig, dass sie noch lebten. Wenn er doch nur etwas hätte tun können. Sein Versuch, die Welt vor ihm zu schützen, indem er freiwillig zurück ins Gefängnis gegangen war, hatte nichts geholfen. Wieder war es geschehen. Wieder war er in fremde Wohnungen eingedrungen und hatte   …
    Ein Geräusch?
    Rouven wandte sich blitzschnell um. Ganz sicher hatte er gerade etwas vernommen. Es war nur ein kurzes, leises Geräusch gewesen, doch er war sicher, dass sich in der Etage unter ihm etwas geregt hatte.
    Vorsichtig schlich Rouven in eines der Arbeitszimmer zurück. Auf einem Schrank hatte er einen Baseballschläger entdeckt. Er griff danach und hielt das Holz wie eine Waffe in beiden Händen. So wagte er sich wieder aus dem Raum und auf die Treppe.
    Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Am liebsten wäre er die Treppe hinuntergestürzt und hätte sich allem entgegengestellt, was er antraf. Doch er zwang sich zur Geduld und trat übervorsichtig auf die Stufen. Keinesfalls wollte er ein Knarren riskieren. So brauchte er einige Zeit, bis er die unterste Stufe erreicht hatte.
    Dann schließlich hörte er das Geräusch erneut. Rouvens Hände verkrampften sich um den Baseballschläger. Was immer diesen Laut verursacht hatte, es befand sich ganz in seiner

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