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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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kommen. Doch groß war ihr Entsetzen, als sie dort nur Nana antraf, die in ihrer Ecke der Halle auf dem Bett saß, das Rouven einmal für sie besorgt hatte. In ihren Händen hielt sie eine Zeitung, doch es war für Tabitha nicht ersichtlich, ob Nana lesen konnte, was darin stand.
    Die Frau blickte auf, und sofort änderte sich der bisher leere Blick. »Clara«, rief sie aus und eilte sich, auf die Füße zu kommen. »Du hier?«
    Tabitha erging es wie Rouven, wenn er hierherkam. Es machte ihr nichts aus, mit falschem Namen angesprochen zu werden. Aber sie genoss die zärtliche Umarmung und die Freude der Frau.
    Und plötzlich hielt Tabitha inne. Sie schaute Nana überrascht an. »Du siehst mich«, stellte sie fest, und ihre Stimme klang gerade so, als wurde ihr das zum ersten Mal bewusst. »Du kannst mich sehen«, wiederholte sie und wunderte sich, dass sie dieser Tatsache bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Nicht einmal in den Tagen, in denen Rouven in der Gefängniszelle gesessen hatte und Tabitha für Nana verantwortlich gewesen war. Sie hatte es immer als völlig selbstverständlich angesehen, dass Nana sie begrüßte, wenn Tabitha im Schutze der Nacht Taschen mit Lebensmitteln von der Tafel hierherbrachte, die sie mittags ungesehen dort bereitgestellt hatte. Niemandem war es aufgefallen. Tabitha hatte sich äußerst geschickt angestellt. Doch all das war jetzt nicht mehr wichtig.
    »Du kannst mich sehen!«, sagte sie zum dritten Mal.
    Nana lachte. »Natürlich. Du stehst ja auch direkt vor mir.«
    Tabitha betrachtete die Frau. Jetzt aber mit anderen Augen. Mit ganz anderen Augen. In Tabitha keimte ein Verdacht auf. Erst nur eine vage Vermutung, dann jedoch eine erschreckende Ahnung. Sie nahm die alte Frau an der Hand. »Magst du spazieren?«, fragte sie.
    »Gern!« Nana freute sich.
    Soweit Tabitha wusste, war Rouven mit ihr bisher nie draußen gewesen. Zumindest hatte er es nie erwähnt. Tabithas Verdacht erhärtete sich. Ihr Atem raste nun erneut. Doch nicht vor Anstrengung wie noch kurz zuvor. Sie keuchte vor Aufregung.
    Mit Nana an der Hand verließ sie die Halle, sie führte sie durch den langen feuchten Gang und öffnete das riesige Eingangstor.
    »Die Sonne scheint«, freute sich Nana. »Wie schön!«
    »Lass uns ein Stück gehen, ja?«, bat Tabitha und merkte gar nicht, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie geleitete Nana an ihrer Hand durch den Park, in Richtung Straße. Dorthin, wo sich stets die meisten Leute aufhielten: Spaziergänger, Eltern mit Kinderwagen, Jogger, Skater, Inliner. »Noch ein Stück, Nana, ja?«
    Tabitha zog an ihr, und die Frau beschwerte sich: »Nicht so schnell. Und du drückst meine Hand so fest. Clara, was ist mit dir?«
    Tabitha versuchte sich zu beherrschen, doch es gelang ihr nicht. Nicht einmal als Nana rief »Du machst mir Angst«, konnte Tabitha ihren Schritt verlangsamen. Sie brauchte Gewissheit. Sie musste wissen, ob sie mit ihrer Ahnung richtig lag.
    An der Straße angekommen, blieb Tabitha abrupt stehen. Mitten auf dem Bürgersteig. Sie wandte sich Nana zu: »Entschuldige!«, sagte sie nur.
    Nana hob die Hand. »Ach was, nicht so schlimm. Jetzt bleibst du ja stehen.«
    In Tabitha brodelte es innerlich. »Das meine ich nicht«, entgegnete sie. »Ich entschuldige mich für das, was ich gleich tue.«
    Die Frau sah Tabitha verständnislos an. »Was meinst du?«
    »Es tut mir leid«, antwortete Tabitha und trat einen Schritt zurück.
    Nana sah sie ängstlich an. »Was bedeutet das?«
    Tabitha ging einen weiteren Schritt zurück. Sie ließ Nana auf dem Bürgersteig stehen und zog sich selbst auf den Grünstreifen des Parks zurück.
    »Was soll das?«, fragte Nana ängstlich.
    »Es tut mir leid«, sagte Tabitha nur noch einmal. Sie hatte einen Radfahrer entdeckt, der hinter Nana den Bürgersteig entlanggefahren kam.
    »Aber was denn?«, fragte Nana, die den Radfahrer erst bemerkte, als dieser unmittelbar hinter ihr war. Nana schrie auf und in derselben Sekunde raste der Radfahrer auch schon durch sie hindurch.
    Sie aber hatte nichts davon gespürt. Sie blickte verstört und weinend zu Tabitha hoch. »Clara, was war das? Was bedeutet das? Was geht hier vor?«
    Tabitha rannte zu ihr und nahm sie in die Arme. »Entschuldige, Nana. Bitte verzeih mir.«
    Die Frau schluchzte. »Ich verstehe das alles nicht. Was ist gerade geschehen?«
    Tabitha drückte sie fest an sich. »Entschuldige. Ich musste es wissen, ob   … Ich brauchte Gewissheit   …«
    Ein erneuter Impuls. Ein

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