Sichelmond
allmählich zum Erliegen.
Doch es blieb Rouven weiterhin verwehrt, sich zu bewegen.
»Tabitha!«, schrie er noch einmal in Richtung der Tür, als eine männliche Stimme zu hören war: »Nun vergiss sie doch mal für einen Moment!«
Rouven fuhr herum. Es war niemand zu sehen. Er befand sich allein in der Kapelle, an der wieder alles an seinem Platz stand: die Bänke, die Kerzen. Nichts erinnerte mehr an den Aufruhr der vergangenen Sekunden. Alles war wie zuvor. Bis auf die Tatsache, dass Rouven wie gefesselt auf seiner Bank saß, völlig unfähig, sich zu erheben.
Seine Blicke schweiften durch den Innenraum der Kapelle. Er war allein. Diese Stimme musste er sich eingebildet haben.
Wieder drehte er sich zu der geschlossenen Tür um. »Tabitha!«, schrie er.
Und in diesem Moment wurde er wieder angesprochen: »Bist du langweilig geworden. Immer geht es nur um sie.«
Erneut sauste Rouvens Kopf herum, doch wieder stand niemand dort, woher er die Stimme vernommen hatte. Rouven blickte auf dieKerzen am Boden und die auf dem Sims und auch auf das Fensterbild. Sonst war nichts zu sehen. Alles wie bisher.
Bis auf …
Etwas auf dem Bild erregte seine Aufmerksamkeit. Zunächst glaubte Rouven, es hänge mit dem flackernden Licht der Kerzen zusammen, doch dann hegte er Zweifel. Etwas regte sich in dem Bild. Rouven konnte eine Bewegung ausmachen. Erst nur undeutlich und ungenau. Es gelang ihm nicht, die Bewegung eindeutig zuzuordnen. Zu gering war diese Regung. Und zu sehr spielte das tanzende Licht der Kerzen Rouven einen Streich.
Doch dann wurde die Bewegung eindeutiger, und Rouven konnte sie zuordnen. Es waren die Augen des einen Wesens auf dem Bild. Des stierartigen Kämpfers, der am Boden lag. Seine Augen bewegten sich. Zumindest schien es Rouven so. Sie blickten ihn an. Und wenn er sich zur Seite lehnte, hatte er das Gefühl, die Augen verfolgten ihn.
Wieder versuchte er, sich aus seiner Lage zu befreien. Doch wieder wurde er wie von einer fremden Macht festgehalten. Zu gern wäre er durch den Raum geschritten, um zu prüfen, ob die Augen ihm folgen würden. Noch immer wusste er nicht, ob das alles real war oder ob er sich die Blicke dieses Wesens nur einbildete.
Bis die Augen sich plötzlich schlossen und wieder öffneten.
Rouven zuckte auf. Diese kleine Regung reichte aus, um ihm Gewissheit zu schaffen. Das Gesicht im Fensterbild schaute ihn an. Und mit Rouvens Gewissheit kam mehr Leben in die Figur im Fenster. Die Augenbrauen hoben und senkten sich. Falten entstanden auf der Stirn. Das ganze Gesicht bekam mit einem Mal Farbe, und schließlich grinste der Mann breit aus dem Bild auf Rouven herab.
»Hab ich dich erschreckt?«, fragte ihn die Stimme, die ihn auch vorhin schon angesprochen hatte.
Rouven zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort. Noch immer wusste er nicht, ob dies alles nicht vielleicht eine Einbildung sein konnte, als das Wesen ihn wieder ansprach: »So ruhig? So kenne ich dich ja gar nicht!«
Es wartete Rouvens Antwort nicht ab. Vor den erstaunten Blicken von Rouven begann sich das Wesen aus dem Bild zu schälen. Erst verlor das Gesicht den letzten Glasschimmer und erhielt die typische Hautfarbe. Dann zogen sich die Glasmaserungen über den Körper zurück. Die feinen, hellen Farben des Fensterbildes wandelten sich in realistische Farben, bis sich endlich das gesamte Wesen aus dem Bild herausschälte und in dem Fensterbild eine schwarze Fläche hinterließ. Mit seinen Hufen stemmte es sich auf dem Sims vor dem Fenster ab und sprang schließlich in den Innenraum der Kapelle. Donnernd setzten die Hufe auf den Pflastersteinen auf.
Rouven zuckte zurück. Wieder versuchte er zu flüchten, doch noch immer konnte er sich kaum bewegen.
Das Wesen kauerte still vor ihm auf der Erde. Einen Augenblick. Dann verwandelten sich die Hufe in menschliche Hände. Das Fell zog sich zurück und gab menschliche Haut frei. Ja, sogar die Stierhörner am Kopf verschwanden. Und als das Wesen sich erhob, stand ein junger Mann vor Rouven, in menschlicher Gestalt. Allein die glühenden Augen erinnerten an seine Verwandlung.
»Überrascht, mich zu sehen?«, fragte er in einem beinahe freundlichen Tonfall. Seine Stimme hatte sich nicht verwandelt. Rouven erkannte sie noch immer als diejenige, die ihn aus dem Fenster heraus angesprochen hatte, aber auch als diejenige, die ihn in den Bildern seiner Erinnerung angeschrien hatte, während Tabitha in Rouvens Armen ihr Leben ausgehaucht hatte.
Rouven blickte sein
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