Siddharta
lauschte, im Staub der Straße,
lauschte seinem Herzen, wie es müd und traurig ging, wartete
auf eine Stimme. Manche Stunde kauerte er lauschend, sah
keine Bilder mehr, sank in die Leere, ließ sich sinken, ohne
einen Weg zu sehen. Und wenn er die Wunde brennen fühlte,
sprach er lautlos das Om, füllte sich mit Om. Die Mönche im
Garten sahen ihn, und da er viele Stunden kauerte und auf
seinen grauen Haaren der Staub sich sammelte, kam einer
gegangen und legte zwei Pisangfrüchte vor ihm nieder. Der
Alte sah ihn nicht.
Aus dieser Erstarrung weckte ihn eine Hand, welche seine
Schulter berührte. Alsbald erkannte er diese Berührung, die
zarte, schamhafte, und kam zu sich. Er erhob sich und be-
grüßte Vasudeva, welcher ihm nachgegangen war. Und da er
in Vasudevas freundliches Gesicht schaute, in die kleinen, wie
mit lauter Lächeln ausgefüllten Falten, in die heiteren Augen,
da lächelte auch er. Er sah nun die Pisangfrüchte vor sich
liegen, hob sie auf, gab eine dem Fährmann, aß selbst die
andere. Darauf ging er schweigend mit Vasudeva in den Wald
zurück, kehrte zur Fähre heim. Keiner sprach von dem, was
heute geschehen war, keiner nannte den Namen des Knaben,
keiner sprach von seiner Flucht, keiner sprach von der Wunde.
In der Hütte legte sich Siddhartha auf sein Lager, und da nach
einer Weile Vasudeva zu ihm trat, um ihm eine Schale
Kokosmilch anzubieten, fand er ihn schon schlafend.
Om
Lange noch brannte die Wunde. Manchen Reisenden mußte
Siddhartha über den Fluß setzen, der einen Sohn oder eine
Tochter bei sich hatte, und keinen von ihnen sah er, ohne daß
er ihn beneidete, ohne daß er dachte: »So viele, so viel
Tausende besitzen dies holdeste Glück - warum ich nicht?
Auch böse Menschen, auch Diebe und Räuber haben Kinder,
und lieben sie, und werden von ihnen geliebt, nur ich
nicht.« So einfach, so ohne Verstand dachte er nun, so ähn-
lich war er den Kindermenschen geworden.
Anders sah er jetzt die Menschen an als früher, weniger
klug, weniger stolz, dafür wärmer, dafür neugieriger, betei-
ligter. Wenn er Reisende der gewöhnlichen Art übersetzte,
Kindermenschen, Geschäftsleute, Krieger, Weibervolk, so
erschienen diese Leute ihm nicht fremd wie einst: er verstand
sie, er verstand und teilte ihr nicht von Gedanken und Ein-
sichten, sondern einzig von Trieben und Wünschen geleitetes
Leben, er fühlte sich wie sie. Obwohl er nahe der Vollendung
war, und an seiner letzten Wunde trug, schien ihm doch,
diese Kindermenschen seien seine Brüder, ihre Eitelkeiten,
Begehrlichkeiten und Lächerlichkeiten verloren das Lächerliche
für ihn, wurden begreiflich, wurden liebenswert, wurden ihm
sogar verehrungswürdig. Die blinde Liebe einer Mutter zu
ihrem Kind, den dummen, blinden Stolz eines eingebildeten
Vaters auf sein einziges Söhnlein, das blinde, wilde Streben
nach Schmuck und nach bewundernden Männeraugen bei
einem jungen, eitlen Weibe, alle diese Triebe, alle diese
Kindereien, alle diese einfachen, törichten, aber ungeheuer
starken, stark lebenden, stark sich durchsetzenden Triebe und
Begehrlichkeiten waren für Siddhartha jetzt keine Kindereien
mehr, er sah um ihretwillen die Menschen leben, sah sie um
ihretwillen Unendliches leisten, Reisen tun, Kriege führen,
Unendliches leiden, Unendliches ertragen, und er konnte sie
dafür lieben, er sah das Leben, das Lebendige, das
Unzerstörbare, das Brahman in jeder ihrer Leidenschaften,
jeder ihrer Taten. Liebenswert und bewundernswert waren
diese Menschen in ihrer blinden Treue, ihrer blinden Stärke
und Zähigkeit. Nichts fehlte ihnen, nichts hatte der Wissende
und Denker vor ihnen voraus als eine einzige Kleinigkeit, eine
einzige winzige kleine Sache: das Bewußtsein, den bewußten
Gedanken der Einheit alles Lebens. Und Siddhartha zweifelte
sogar zu mancher Stunde, ob dies Wissen, dieser Gedanke so
sehr hoch zu werten, ob nicht auch er vielleicht eine
Kinderei der Denkmenschen, der
Denk-Kindermenschen sein möchte. In allem ändern waren
die Weltmenschen dem Weisen ebenbürtig, waren ihm oft
weit überlegen, wie ja auch Tiere in ihrem zähen, unbeirrten
Tun des Notwendigen in manchen Augenblicken den Men-
schen überlegen scheinen können.
Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis,
das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines
langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft
der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst,
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