Siddharta
jeden
Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit
denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können. Langsam
blühte dies in ihm auf, strahlte ihm aus Vasudevas altem
Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige Voll-
kommenheit der Welt, Lächeln, Einheit.
Die Wunde aber brannte noch, sehnlich und bitter ge-
dachte Siddhartha seines Sohnes, pflegte seine Liebe und
Zärtlichkeit im Herzen, ließ den Schmerz an sich fressen, beging alle Torheiten der Liebe. Nicht von selbst erlosch diese
Flamme.
Und eines Tages, als die Wunde heftig brannte, fuhr Sid-
dhartha über den Fluß, gejagt von Sehnsucht, stieg aus und
war willens, nach der Stadt zu gehen und seinen Sohn zu su-
chen. Der Fluß floß sanft und leise, es war in der trockenen
Jahreszeit, aber seine Stimme klang sonderbar: sie lachte! Sie
lachte deutlich. Der Fluß lachte, er lachte hell und klar den alten Fährmann aus. Siddhartha blieb stehen, er beugte sich übers
Wasser, um noch besser zu hören, und im still ziehenden
Wasser sah er sein Gesicht gespiegelt, und in diesem ge-
spiegelten Gesicht war etwas, das ihn erinnerte, etwas Ver-
gessenes, und da er sich besann, fand er es: dies Gesicht glich einem ändern, das er einst gekannt und geliebt und auch ge-fürchtet hatte. Es glich dem Gesicht seines Vaters, des Brah-
manen. Und er erinnerte sich, wie er vor Zeiten, ein Jüngling,
seinen Vater gezwungen hatte, ihn zu den Büßern gehen zu
lassen, wie er Abschied von ihm genommen hatte, wie er
gegangen und nie mehr wiedergekommen war. Hatte nicht
auch sein Vater um ihn dasselbe Leid gelitten, wie er es nun
um seinen Sohn litt? War nicht sein Vater längst gestorben,
allein, ohne seinen Sohn wiedergesehen zu haben? Mußte er
selbst nicht dies selbe Schicksal erwarten? War es nicht eine
Komödie, eine seltsame und dumme Sache, diese Wiederho-
lung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?
Der Fluß lachte. Ja, es war so, es kam alles wieder, was
nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ward, es wurden immer
wieder dieselben Leiden gelitten. Siddhartha aber stieg wieder
in das Boot und fuhr zu der Hütte zurück, seines Vaters
gedenkend, seines Sohnes gedenkend, vom Flusse verlacht,
mit sich selbst im Streit, geneigt zur Verzweiflung, und nicht
minder geneigt, über sich und die ganze Welt laut mitzula-
chen. Ach, noch blühte die Wunde nicht, noch wehrte sein
Herz sich wider das Schicksal, noch strahlte nicht Heiterkeit
und Sieg aus seinem Leide. Doch fühlte er Hoffnung, und da er
zur Hütte zurückgekehrt war, spürte er ein unbesiegbares
Verlangen, sich vor Vasudeva zu öffnen, ihm alles zu zeigen,
ihm, dem Meister des Zuhörens, alles zu sagen.
Vasudeva saß in der Hütte und flocht an einem Korbe. Er
fuhr nicht mehr mit dem Fährboot, seine Augen begannen
schwach zu werden, und nicht nur seine Augen, auch seine
Arme und Hände. Unverändert und blühend war nur die
Freude und das heitere Wohlwollen seines Gesichtes.
Siddhartha setzte sich zu dem Greise, langsam begann er zu
sprechen. Worüber sie niemals gesprochen hatten, davon er-
zählte er jetzt, von seinem Gange zur Stadt, damals, von der
brennenden Wunde, von seinem Neid beim Anblick glückli-
cher Väter, von seinem Wissen um die Torheit solcher Wün-
sche, von seinem vergeblichen Kampf wider sie. Alles be-
richtete er, alles könnte er sagen, auch das Peinlichste, alles ließ sich sagen, alles sich zeigen, alles konnte er erzählen. Er zeigte seine Wunde dar, erzählte auch seine heutige Flucht,
wie er übers Wasser gefahren sei, kindischer Flüchtling, wil-
lens, nach der Stadt zu wandern, wie der Fluß gelacht habe.
Während er sprach, lange sprach, während Vasudeva mit
stillem Gesicht lauschte, empfand Siddhartha dies Zuhören
Vasudevas stärker, als er es jemals gefühlt hatte, er spürte,
wie seine Schmerzen, seine Beängstigungen hinüberflossen,
wie seine heimliche Hoffnung hinüberfloß, ihm von drüben
wieder entgegenkam. Diesem Zuhörer seine Wunde zu zeigen,
war dasselbe wie sie im Flusse baden, bis sie kühl und mit
dem Flusse eins wurde. Während er immer noch sprach, immer
noch bekannte und beichtete, fühlte Siddhartha mehr und
mehr, daß dies nicht mehr Vasudeva, nicht mehr ein Mensch
war, der ihm zuhörte, daß dieser regungslos Lauschende seine
Beichte in sich einsog wie ein Baum den Regen, daß dieser
Regungslose der Fluß selbst, daß er Gott selbst, daß er das
Ewige selbst war. Und
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