Siddharta
seine
Zärtlichkeit, seine Angst, ihn zu verlieren. Hatte er denn je-
mals an irgend etwas so sehr sein Herz verloren, hatte er je irgendeinen Menschen so geliebt, so blind, so leidend, so er-
folglos und doch so glücklich?
Siddhartha konnte seines Freundes Rat nicht befolgen, er
konnte den Sohn nicht hergeben. Er ließ sich von dem Knaben
befehlen, er ließ sich von ihm mißachten. Er schwieg und
wartete, begann täglich den stummen Kampf der Freund-
lichkeit, den lautlosen Krieg der Geduld. Auch Vasudeva
schwieg und wartete, freundlich, wissend, langmütig. In der
Geduld waren sie beide Meister.
Einst, als des Knaben Gesicht ihn sehr an Kamala erin-
nerte, mußte Siddhartha plötzlich eines Wortes gedenken, das
Kamala vor Zeiten, in den Tagen der Jugend, einmal zu ihm
gesagt hatte. »Du kannst nicht lieben«, hatte sie ihm ge-
sagt, und er hatte ihr recht gegeben und hatte sich mit einem
Stern, die Kindermenschen aber mit fallendem Laub vergli-
chen, und dennoch hatte er in jenem Wort auch einen Vorwurf
gespürt. In der Tat hatte er niemals sich an einen anderen
Menschen ganz verlieren und hingeben können, sich selbst
vergessen, Torheiten der Liebe eines anderen wegen begehen;
nie hatte er das gekonnt, und dies war, wie ihm damals schien,
der große Unterschied gewesen, der ihn von den
Kindermenschen trennte. Nun aber, seit sein Sohn da war,
nun war auch er, Siddhartha, vollends ein Kindermensch ge-
worden, eines Menschen wegen leidend, einen Menschen lie-
bend, an eine Liebe verloren, einer Liebe wegen ein Tor ge-
worden. Nun fühlte auch er, spät, einmal im Leben diese
stärkste und seltsamste Leidenschaft, litt an ihr, litt kläglich, und war doch beseligt, war doch um etwas erneuert, um etwas
reicher.
Wohl spürte er, daß diese Liebe, diese blinde Liebe zu seinem
Sohn eine Leidenschaft, etwas sehr Menschliches, daß sie
Sansara sei, eine trübe Quelle, ein dunkles Wasser. Dennoch,
so fühlte er gleichzeitig, war sie nicht wertlos, war sie
notwendig, kam aus seinem eigenen Wesen. Auch diese Lust
wollte gebüßt, auch diese Schmerzen wollten gekostet sein,
auch diese Torheiten begangen.
Der Sohn indessen ließ ihn seine Torheiten begehen, ließ
ihn werben, ließ ihn täglich sich vor seinen Launen demütigen.
Dieser Vater hatte nichts, was ihn entzückt, und nichts, was er gefürchtet hätte. Er war ein guter Mann, dieser Vater, ein guter, gütiger, sanfter Mann, vielleicht ein sehr frommer Mann,
vielleicht ein Heiliger - dies alles waren nicht Eigenschaften, welche den Knaben gewinnen konnten. Langweilig war ihm
dieser Vater, der ihn da in seiner elenden Hütte gefangen hielt, langweilig war er ihm, und daß er jede Unart mit Lächeln,
jeden Schimpf mit Freundlichkeit, jede Bosheit mit Güte
beantwortete, das eben war die verhaßteste List dieses alten
Schleichers. Viel lieber wäre der Knabe von ihm bedroht, von
ihm mißhandelt worden.
Es kam ein Tag, an welchem des jungen Siddhartha Sinn
zum Ausbruch kam und sich offen gegen seinen Vater
wandte. Der hatte ihm einen Auftrag erteilt, er hatte ihn Reisig sammeln geheißen. Der Knabe ging aber nicht aus der Hütte,
er blieb trotzig und wütend stehen, stampfte den Boden,
ballte die Fäuste, und schrie in gewaltigem Ausbruch seinem
Vater Haß und Verachtung ins Gesicht.
»Hole du selber dein Reisig!« rief er schäumend, »ich bin
nicht dein Knecht. Ich weiß ja, daß du mich nicht schlägst, du
wagst es ja nicht; ich weiß ja, daß du mich mit deiner Fröm-
migkeit und deiner Nachsicht beständig strafen und klein
machen willst. Du willst, daß ich werden soll wie du, auch so
fromm, auch so sanft, auch so weise! Ich aber, höre, ich will,
dir zu Leide, lieber ein Straßenräuber und Mörder werden
und zur Hölle fahren, als so werden wie du! Ich hasse dich, du
bist nicht mein Vater, und wenn du zehnmal meiner Mutter
Buhler gewesen bist!«
Zorn und Gram liefen in ihm über, schäumten in hundert
wüsten und bösen Worten dem Vater entgegen. Dann lief der
Knabe davon und kam erst spät am Abend wieder.
Am ändern Morgen aber war er verschwunden. Ver-
schwunden war auch ein kleiner, aus zweifarbigem Bast ge-
flochtener Korb, in welchem die Fährleute jene Kupfer- und
Silbermünzen aufbewahrten, welche sie als Fährlohn erhielten.
Verschwunden war auch das Boot, Siddhartha sah es am
jenseitigen Ufer liegen. Der Knabe war entlaufen.
»Ich muß ihm folgen«, sagte Siddhartha, der seit jenen
Weitere Kostenlose Bücher