Siddharta
während Siddhartha aufhörte, an sich
und an seine Wunde zu denken, nahm diese Erkenntnis vom
veränderten Wesen des Vasudeva von ihm Besitz, undje mehr
er es empfand und darein eindrang, desto weniger wunderlich
wurde es, desto mehr sah er ein, daß alles in Ordnung und
natürlich war, daß Vasudeva schon lange, beinahe schon
immer so gewesen sei, daß nur er selbst es nicht ganz erkannt
hatte, ja daß er selbst von jenem kaum noch verschieden sei. Er empfand, daß er den alten Vasudeva nun so sehe, wie das Volk
die Götter sieht, und daß dies nicht von Dauer sein könne; er
begann im Herzen von Vasudeva Abschied zu nehmen. Dabei
sprach er immerfort.
Als er zu Ende gesprochen hatte, richtete Vasudeva seinen
freundlichen, etwas schwach gewordenen Blick auf ihn,
sprach nicht, strahlte ihm schweigend Liebe und Heiterkeit
entgegen, Verständnis und Wissen. Er nahm Siddharthas
Hand, führte ihn zum Sitz am Ufer, setzte sich mit ihm nieder,
lächelte dem Flusse zu.
»Du hast ihn lachen hören«, sagte er. »Aber du hast nicht
alles gehört. Laß uns lauschen, du wirst mehr hören.«
Sie lauschten. Sanft klang der vielstimmige Gesang des
Flusses. Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden
Wasser erschienen ihm Bilder: sein Vater erschien, einsam,
um den Sohn trauernd, er selbst erschien, einsam, auch er mit
den Banden der Sehnsucht an den fernen Sohn gebunden; es
erschien sein Sohn, einsam auch er, der Knabe, begehrlich
auf der brennenden Bahn seiner jungen Wünsche stürmend,
jeder auf sein Ziel gerichtet, jeder vom Ziel besessen, jeder
leidend. Der Fluß sang mit einer Stimme des Leidens, sehnlich
sang er, sehnlich floß er seinem Ziele zu, klagend klang seine
Stimme.
»Hörst du?« fragte Vasudevas stummer Blick. Siddhartha
nickte.
»Höre besser!« flüsterte Vasudeva.
Siddhartha bemühte sich, besser zu hören. Das Bild des
Vaters, sein eigenes Bild, das Bild des Sohnes flössen ineinan-
der, auch Kamalas Bild erschien und zerfloß, und das Bild
Govindas, und andere Bilder, und flössen ineinander über,
wurden alle zum Fluß, strebten alle als Fluß dem Ziele zu,
sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses Stimme klang
voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von unstill-
barem Verlangen. Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha
sah ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus
allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem
Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meere, und alle
Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus
dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Re-
gen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward
Bach, ward Fluß, strebte aufs neue, floß aufs neue. Aber die
sehnliche Stimme hatte sich verändert. Noch tönte sie, leid-
voll, suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr,
Stimmen der Freude und des Leides, gute und böse Stimmen,
lachende und trauernde, hundert Stimmen, tausend Stim-
men.
Siddhartha lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins
Zuhören vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß
er nun das Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er
all dies gehört, diese vielen Stimmen im Fluß, heute klang es
neu. Schon konnte er die vielen Stimmen nicht mehr unter-
scheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von
männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehn-
sucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen
der Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben
und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles
zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Lei-
den, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die
Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die
Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem
Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht
auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele
nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie
einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm,
dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem
einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung.
»Hörst du?« fragte wieder Vasudevas Blick.
Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln seines
alten Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den
Stimmen des Flusses das Om schwebte. Hell glänzte sein Lä-
cheln, als er den
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