Sie haben mich verkauft
als Jackie mir die Telefonkarte besorgt hatte, wählte ich mit zittrigen Fingern Iras Nummer.
»Ich bin es. Oxana«, sagte ich, als sie abhob.
Ira schnappte hörbar nach Luft. »Oxana! Wo bist du gewesen?«
»Es tut mir so leid. Es ist alles sehr kompliziert. Ich bin jetzt in England.«
»Was? Aber wieso das denn?«
»Ich arbeite hier.«
»Wo?«
»In einer Bar.«
»Oh«, sagte Ira.
Ich wusste, sie glaubte mir nicht, aber die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen. Keinem Menschen würde ich je erzählen können, wie dumm ich war. Zu Hause durfte das keiner erfahren.
»Wie geht es den Kindern?«, wechselte ich schnell das Thema.
»Gut, wirklich gut. Sie vermissen dich immer noch. Leute aus Paschas Schule wollten zu dir, das ist noch gar nicht so lange her. Sie wollten wissen, wieso du ihn in letzter Zeit nicht besucht hast, und hinterließen die Nachricht, dass er bald die Schule wechseln wird.«
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Dass du im Ausland arbeitest.«
»Haben die gesagt, wohin er kommt?«
»Nein.«
»Wir wissen also nicht, wo er jetzt ist?«
»Nein.«
Einen Moment lang hatte es mir die Sprache verschlagen. Dann konnte ich fragen: »Wie geht es Sascha und Luda?«
»Na ja, wir brauchen Geld, damit wir uns um sie kümmern können, Oxana«, antwortete Ira, und in ihrer Stimme klang Ärger mit. »Wir haben jetzt schon monatelang nichts mehr von dir bekommen.«
»Ich weiß«, flüsterte ich.
»Was denkst du dir eigentlich dabei? Ich habe mir Geld leihen müssen, um Tamara zu bezahlen, aber jetzt habe ich nichts mehr. Wieso schickst du kein Geld? Wieso rufst du nicht an?«
»Ich kann das jetzt nicht erklären. Ich hatte Probleme. Bitte hab noch ein Weilchen Geduld, Ira. Ich besorge Geld für euch. Ich warte auf meinen Lohn.«
»Also, bis jetzt habe ich mir zweihundert Dollar geliehen, und noch mal kann ich das nicht.«
Ich schämte mich so. Das war viel Geld für jemanden, der gerade mal siebzig Dollar im Monat verdiente. »Vielen, vielen Dank, Ira, für alles, was du getan hast. Ich verspreche dir, ich schicke dir bald Geld.«
»Was soll ich Tamara sagen?«
»Sag ihr, das Geld kommt bald. Ich muss jetzt Schluss machen, Ira. Ich rufe wieder an, wenn ich kann. Bitte glaub mir, ich tue, was ich kann. Ich denke jeden Tag an euch. Grüß die Kinder herzlich, und gib ihnen einen dicken Kuss von mir. Ich muss jetzt auflegen. Bis bald.«
Hastig legte ich den Hörer auf. Ich hatte ein Versprechen gegeben, und ich hatte keine Ahnung, wie ich es je halten sollte.
Wir waren jetzt seit ein oder zwei Monaten in Birmingham, und England kam mir allmählich nicht mehr so fremd vor. Ich lernte schnell Englisch – ich hatte ja nichts anderes zu tun, wenn die Geschäfte schlecht gingen in der Nacht. Ich war immer noch nicht beliebt bei den anderen Mädchen, und auch nicht bei den Kunden, aber ich hatte Jackie zum Reden, wenn wir gerade beide nichts zu tun hatten, und außerdem konnte ich ja immer noch die Bücher und Zeitschriften lesen, die hier herumlagen.
Tagsüber war ich ganz abgeschieden und für mich. Ich ging kaum aus, die meiste Zeit über war ich ja im Haus eingeschlossen. Ein- oder zweimal nahm mich Defrim in den Supermarkt mit, weil ich beim Einkaufen helfen sollte, aber immer wurde ich streng überwacht, damit ich nicht fliehen konnte. Ich spürte, dass Ardy und Defrim die Dinge in England weniger gut unter Kontrolle hatten als anderswo: Die Stadt war so riesig und so voller Leute, es wäre leicht gewesen, hier unterzutauchen. Also überwachten sie Anna und mich besonders streng.
Tagsüber putzte und kochte ich im Haus. Dann brachte mich einer der Männer zur Arbeit, wo ich fast die ganze Nacht blieb. Vom frühen Morgen bis kurz vor Mittag schlief ich. Dann fing meine Sklavenarbeit wieder von vorn an.
Es wäre unerträglich gewesen, hätte es da nicht dieses eine gegeben: Das Versprechen, das ich Ira gegeben hatte, weckte Hoffnung in mir. Jetzt hatte ich etwas, für das ich arbeiten musste. Irgendwie würde ich ihr Geld schicken, damit sie und Tamara sich um meine Kinder kümmern konnten.
Ich horchte, ob auch alles ruhig war, ehe ich die Frisierkommode von der Wand rückte. Ardy war unten, aber bald würde er rauf ins Schlafzimmer kommen, also musste ich schnell machen. Ich bückte mich und tastete mit den Fingern nach dem Spalt, den ich zwischen zwei Lagen Tapete geschnitten hatte. Als ich ihn gefunden hatte, steckte ich eine Fünfpfundnote hinein. In dem Versteck würde das Geld
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