Sie haben sich aber gut gehalten!
mich das Mitleid. Ich eile um die Ecke und sammle ihn auf. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, dass es eine Zwergenfrau ist. Besonders fröhlich sieht sie aber nicht aus. Kein Wunder, so ganz allein in einem verwilderten Beet, jedem Wetter ausgesetzt, und nicht mal eine blühende Blume über der roten Zipfelmütze. Im Moment ziehen auch noch dunkle Wolken am Himmel auf, die Regen ankünden. «In meinem Garten wartet ein Bräutigam auf dich», murmle ich und klemme mir die Zwergenfrau nach kurzer Säuberung ihrer erdverschmutzten Füße unter den Arm.
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14
V iel Zeit, über das misslungene Treffen mit John zu lamentieren, bleibt mir nicht. Der Hausfrauenalltag wartet in Form des Wochenendeinkaufs. Erst als dieser um kurz nach sechs erledigt ist, bin ich endlich zu Hause.
Zuerst bringe ich die Zwergenfrau in den Garten, platziere sie direkt neben dem Zwergenmann von Lotte und überlege, den beiden Namen zu geben. Vielleicht John und Rosy? Oder lieber Romeo und Julia?
Missmutig transportiere ich dann die vier prallgefüllten Tüten in die Küche und wuchte sie auf die Arbeitsfläche. Wenn ich daran denke, dass die Massen gerade mal fürs Wochenende ausreichen, wird mir übel.
Aus dem Esszimmer vernehme ich plötzlich munteres Stimmengewirr. Offensichtlich sind alle da.
Noch ehe ich die Lebensmittel verstaut habe, öffne ich die Durchreiche und finde die liebe Familie am Esstisch versammelt. Einschließlich Herbert, Charlie und der engelhaft aussehenden Marie. Wie bei einer Tupperparty-Gesellschaft, die sehnlichst auf die Gastgeberin wartet. Damit sie die unzerstörbaren Frischhaltedosen öffnet und knuspriges Gebäck oder Schnittchen daraus reicht.
«Hallo!», grüße ich in die Runde.
«Na endlich. Wo bleibst du denn so lange? Ich bin am Verhungern …» Die Beschwerde kam von Fabian, dem ewig Hungrigen, der als Kind mal in den Kühlschrank umziehen wollte.
«Bei deiner Wampe täte es dir ganz gut, mal eine Mahlzeit ausfallen zu lassen», pflaumt Juliane ihren Bruder an.
Fabian kontert knurrig: «Dürre Ziege», zieht aber sein dunkelgrünes Kapuzen-Sweatshirt über das kleine Bäuchlein.
Mir reicht’s! Genervt rolle ich mit den Augen. «Hört sofort mit der Zankerei auf, sonst suche
ich
mir eine Wohnung, und ihr könnt euch alleine vergnügen.»
«’tschuldigung!», murmeln beide nun einträchtig.
Tja! Erziehung hört eben doch nicht mit der Volljährigkeit auf.
Wie ich an den Tellern, Tassen und der Kanne sehe, gab es Tee und Kuchen, doch wenn ich Fabians Wunsch nach Essen richtig verstehe, ist das schon eine Weile her. Warum das schmutzige Geschirr nicht abgeräumt wurde, frage ich besser gar nicht erst.
«Wolltet ihr euch zu Mittag nicht was vom Chinesen kommen lassen?», erkundige ich mich stattdessen gereizt.
Mein Vater blickt auf die Uhr. «Mittag war vor vier Stunden», erklärt er kopfschüttelnd. «Mittlerweile ist Abendessenszeit. Ich habe die Spülmaschine repariert und könnte auch eine Kleinigkeit vertragen.»
Aha! Der Handwerker präsentiert mir die
Rechnung
.
«Was gibt’s denn?», wendet sich daraufhin auch prompt der werdende Vater an mich.
Lotte stippt mit spitzem Finger einen letzten Brösel vom Teller und blickt mich dabei anklagend an.
Kenne ich die Szenerie nicht schon? Nur bei anderem Wetter und zu einer anderen Tageszeit. Aber vielleicht bin ich ja auch von den heutigen Ereignissen so verwirrt, und ich erlebe nichts weiter als ein harmloses Déjà-vu.
Plötzlich fühle ich mich wie in einer unerbittlichen Zeitschleife gefangen. Als wäre ich eine Märchenfigur, für die der letzte Satz zum grausamen Fluch wird.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute
, bedeutet nichts anderes, als mit endloser Routine gequält zu werden. Irgendwann bleibt die Zeit einfach stehen. Bestenfalls kann man den Moment selbst bestimmen. Wenn man keine Kinder mehr möchte, die bereits geborenen aus dem Gröbsten raus und gesund sind, beispielsweise. Sie bleiben für immer Schulkinder. Werden nie erwachsen. Werden nie ausziehen. Der Ehemann geht und kommt pünktlich auf die Minute. In dieser Geschichte gibt es natürlich auch keine Scheidung. Alles bleibt …
Moment!
Das einzig Positive an diesem Horrorszenario wäre, nicht älter zu werden. Für immer jung zu bleiben. Keine Falten. Keine grauen Haare. Keine Cellulite.
Ja, das würde mir gefallen! Aber ob so ein Stillstand Spaß macht? Wortlos schließe ich die Durchreiche. Und wage nach einigen
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