Sie kamen bis Konstantinopel
hochnäsige Tatenlosigkeit nicht mehr ertragen. Sie fasste sich ein Herz, klopfte bei einem Nonnenkloster an und erklärte der verdutzten Äbtissin, sie wolle als Freiwillige in dem angeschlossenen Hospital arbeiten. Anfangs kostete es sie ungeheure Überwindung, eitrige Wunde auszuwaschen, Erbrochenes wegzuwischen und die Schreie der sich aufbäumenden Patienten zu ertragen, die von kräftigen Männern festgehalten wurden, während das Skalpell des Arztes in ihr Fleisch schnitt. So kam sie kaum dazu, an Patricius zu denken.
Eines Abends, als sie die Hand eines jungen Soldaten hielt, dem man vor zwei Tagen ein brandig gewordenes Bein abgesägt hatte und der gerade unter ihren beruhigenden Worten in den Schlaf gesunken war, vernahm sie plötzlich eine erstaunte Stimme.
»Du hier?«
Sie sah auf. Zwei blaue, von Fältchen umgebene Augen blickten sie aus einem mit leichten Sommersprossen übersäten Gesicht an. Unwillkürlich lächelte sie, doch dann erzählte sie in wenigen Worten von Ursos Tod, ihrer Audienz, und dass Kallinikos jetzt in des Kaisers Diensten stand. Seine Waffe erwähnte sie nicht, und der Priester, tief betroffen von Ursos Schicksal, schien auch kein Interesse an dem Baumeister zu haben.
»Und du«, fragte sie ihn mit gesenkter Stimme, »bist hier, um …«
»Ja«, nickte er, »um Trost zu spenden oder die letzte Ölung. Er hier«, dabei zeigte er auf den Mann, dessen Hand Pelagia noch immer hielt, »wird diese Nacht nicht überleben.«
»Wie kannst du das sagen?«, empörte sie sich.
»Ich weiß es einfach.«
»Ja, die Operation war furchtbar. Aber er hat sie überstanden. Heute ging es ihm schon besser!«
»Leider ist es so, wie ich sage«, antwortete Patricius und öffnete eine Ledertasche. »Diese Fähigkeit ist mir selbst unheimlich. Zum ersten Mal spürte ich den Tod, als ich sechs Jahre alt war.«
»Wie … kam das?«, fragte Pelagia verstört, »und wer ist damals gestorben?«
»Mein Vater«, antwortete der Priester und begann, ein Gebet zu murmeln.
Nachdem Patricius weitergegangen war, wachte Pelagia an dem Krankenlager. Als morgens die Vögel in dem kleinen Innenhof zu zwitschern begannen, merkte sie, dass der Soldat nicht mehr atmete und erschauerte.
***
Die Wochen vergingen, das Blutvergießen nahm kein Ende, die Brotpreise stiegen und noch immer war von Kallinikos' Waffen nichts zu sehen. Pelagia half weiter in dem Hospital, wo sie gelegentlich Patricius begegnete. So unheimlich ihr sein Gespür für den nahen Tod war, so sehr fühlte sie sich von seinem gelassenen Wesen angezogen, bewunderte sie seine Fähigkeit, auch für die hoffnungslos Kranken noch ein tröstendes Wort zu finden. Doch Zeit für persönliche Worte fanden sie nicht.
Am Abend des fünfzehnten Augusts sollte eine große Bittprozession von der Apostelkirche zur Hagia Sophia ziehen. Der Tag war sehr heiß gewesen, und als es dämmerte, traten der Patriarch Johannes, Kaiser Konstantinos und seine Frau Anastasia aus der Apostelkirche, wo sie am Porphyrsarkophag des heiligen Kaisers Konstantin gebetet hatten. Mit großen Kerzen in der Hand schritten sie die Straße entlang, während die letzten Strahlen der Abendsonne die Kuppel der Hagia Sophia in rötlichen Schimmer tauchten. Ihnen folgten die Bischöfe und der Hofstaat, danach kam eine Abordnung der Mönche des Studios-Klosters, deren monotone, nie endende Gesänge die Straßen erfüllten, schließlich die Patrizier in ihren weißen, langärmligen Tuniken. Zuletzt reihte sich das Volk in den Zug ein. Feiste Kaufleute, Rechtsgelehrte und Juweliere drängten sich neben Bettlern, Gerbern, Fleischhauern und Marktweibern. Für wenige Stunden waren alle Standesunterschiede ausgelöscht, zählte nur noch die gemeinsame Angst vor den Sarazenen. Eine gute Stunde später versammelten sich Tausende in der Hagia Sophia. Die riesige, nachtdunkle Kuppel wurde nur spärlich von unzähligen flackernden Lämpchen erhellt. Leuchtenden Perldiademen gleich hingen sie an Ketten, die zwischen den Säulen gespannt waren.
Nach dem Ende des Gottesdienstes, als es schon fast auf Mitternacht zuging und Pelagia in die Vorhalle trat, sah sie dort den großen, rothaarigen Iren im Gespräch mit einem Mönch stehen. Ihr Herz klopfte, als sie ihren ganzen Mut zusammennahm und ihn ansprach.
»Hast du einen Moment Zeit?«
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie erblickte.
»Natürlich, gerne. Nur einen Augenblick, der Patriarch wollte mich noch sprechen.«
Pelagia ging zu
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