Sie kamen nach Bagdad
zurückstellte, kippte der Tisch ein wenig und etwas Wasser ergoss sich auf den Boden, der sich an dieser Stelle sofort in eine Lache von flüssigem Lehm verwandelte. Als sie das sah, regte sich in Victoria Jones’ immer wachem Gehirn ein Gedanke.
Die Frage war: Steckte der Schlüssel außen im Schloss oder nicht?
Die Sonne ging unter, sehr bald würde es finster sein. Victoria schlich zur Tür, kniete nieder und blickte durch das riesige Schlüsselloch. Sie konnte kein Licht sehen. Jetzt brauchte sie etwas, um zu stoßen, einen Bleistift oder das Ende eines Füllfederhalters. Zu dumm, dass man ihr ihre Handtasche fortgenommen hatte. Sie sah sich stirnrunzelnd im Zimmer um. Das einzige Besteck auf dem Tisch war ein großer Löffel. Damit war ihr im Augenblick nicht gedient, obwohl er später von Nutzen sein könnte. Victoria setzte sich hin, um zu überlegen. Plötzlich entfuhr ihr ein Ausruf, sie zog einen Schuh aus, riss die innere Ledersohle heraus und rollte sie fest zusammen. Sie war ziemlich steif. Dann ging sie zur Tür zurück, kauerte sich nieder und stieß kräftig durch das Schlüsselloch. Zum Glück saß der Riesenschlüssel locker im Schloss. Nach zwei bis drei Minuten waren ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt, und der Schlüssel fiel außerhalb der Tür aus dem Schloss.
Jetzt, dachte Victoria, muss ich mich beeilen, ehe es ganz finster wird. Sie holte den Krug und goss vorsichtig ein wenig Wasser auf eine Stelle am unteren Ende des Türrahmens, möglichst nahe der Stelle, wo der Schlüssel vermutlich hingefallen war. Dann kratzte und scharrte sie mit den Fingern und dem Löffel in dem lehmigen Fleck, der sich gebildet hatte. Nach und nach gelang es ihr mit frischer Wasserzufuhr aus dem Krug, eine flache Mulde unter der Tür auszugraben. Sie legte sich auf den Boden und versuchte durch die Mulde hindurchzuspähen, aber es war nicht leicht, irgendetwas zu sehen. Sie rollte ihre Ärmel auf und merkte, dass sie ihre Hand und einen Teil ihres Unterarmes unter der Türe hindurchstecken konnte.
Sie tastete suchend umher, und endlich berührte eine ihrer Fingerspitzen etwas Metallisches. Sie hatte die Lage des Schlüssels festgestellt, aber sie konnte den Arm nicht weit genug hinausstrecken, um ihn zu packen und näher heranzuziehen. Die nächste Prozedur war, die Sicherheitsnadel, die einen abgerissenen Schulterträger an Ort und Stelle hielt, abzunehmen, zu einem Haken zu biegen und sie in ein Stück des arabischen Brotes als Stiel einzubetten. Dann legte sie sich wieder auf den Boden, um zu angeln.
Gerade als sie nahe daran war, vor Zorn zu weinen, fasste sie mit der hakenförmigen Sicherheitsnadel den Schlüssel, zog ihn in Reichweite ihrer Finger und dann durch die lehmige Mulde auf ihre Seite der Tür.
Victoria hockte sich auf ihre Absätze, voll Bewunderung über ihre Findigkeit. Sie nahm den Schlüssel in ihre lehmige Hand und steckte ihn ins Schloss. Sie wartete ein Weilchen, bis in der nächsten Nachbarschaft ein Hundechor zu bellen begann, und drehte ihn dann um. Die Tür gab ihrem Druck nach und öffnete sich einen Spalt. Victoria spähte vorsichtig hindurch. Die Tür führte in ein anderes kleines Zimmer, an dessen Ende eine Tür offen stand. Sie trippelte auf Zehenspitzen hinaus und quer durch das Zimmer. Die offene Tür führte auf den oberen Absatz einer Treppe aus rohen Lehmziegeln, die an der Außenseite des Hauses angebracht war und in den Garten hinunterging.
Mehr wollte Victoria nicht wissen. Auf den Zehenspitzen huschte sie in ihr Gefängnis zurück. Sie würde warten, bis es ganz dunkel war – dann würde sie versuchen zu fliehen.
Sie hatte noch etwas bemerkt, und zwar, dass ein zerrissenes, formloses Stück gestreiften Stoffs achtlos hingeworfen vor der äußeren Tür lag. Es war wohl ein alter, arabischer Mantel und würde ihr sehr gelegen kommen, um ihre europäische Kleidung zu verdecken.
Wie lange sie wartete, wusste Victoria nicht. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Aber endlich verstummten die verschiedenen Geräusche in der Nachbarschaft. Das ferne Dudeln eines Grammofons verhallte. Die rauen Männerstimmen, das Spucken, das hohe, kreischende Lachen der Frauen hörte auf.
»Nun los«, murmelte Victoria und stand auf.
Sie überlegte kurz, versperrte dann die Tür ihres Kerkers von außen und ließ den Schlüssel im Loch stecken. Dann tastete sie sich durch das äußere Zimmer, warf den arabischen Mantel um und trat auf die Lehmtreppe hinaus. Der Mond schien, aber er
Weitere Kostenlose Bücher