'Sie können aber gut Deutsch'
der auch nach dem siebten »Bring’s!«-Ruf den Ball nicht zurückbringt, sondern im Gebüsch versteckt. Bilde ich es mir ein, oder schauen mich die Besitzer der reinrassigen, wohl erzogenen Hunde, die in einem bestimmten Winkel bei Fuß laufen und deren Körperteile wie Beine und Ohren den Maßanforderungen der jeweiligen Rassezüchtung entsprechen, herablassend an? Warum werde ich eher von Besitzern anderer sonderbar aussehender, aber sehr sympathischer Hunde angesprochen? Werte ich meinerseits schon zu sehr, indem ich andere Mischlinge als sympathisch bezeichne, während ich die reinrassigen Hunde aufgrund ihres Aussehens oder vielmehr sogar aufgrund der Blicke ihrer Besitzer eher verurteile?
Oder warum meine ich, jetzt, wo ich Mutter bin und mich lang und breit mit dem Thema Kinderwagen auseinandergesetzt habe, auf dem Spielplatz aus der Marke des jeweiligen Kinderwagens auf die dazugehörenden Kinder bzw. Eltern schließen zu können? Verbiete ich mir schnell durch den Kopf huschende Gedanken wie »Ist doch klar, dass das Kind zuckersüßen Industrie-Eistee bekommt, es schaut zuhause bestimmt auch schon fern!« oder »Na, darf das Kind nicht in den Sandkasten, weil es sich das Kleidchen für 100 Euro dreckig machen könnte?« Gedanken, die nur deshalb durch meinen Kopf huschen, weil ich gesehen habe, in welchem Gefährt das Kind zum Spielplatz kutschiert wurde. Ich bin mit Sicherheit kein besserer Mensch!
Wo ist der Unterschied zu »Ist doch klar, dass aus dem Kind nichts wird, wenn die Mutter nicht Deutsch mit ihm spricht!« oder »Na, wenn das mal nicht der nächste Terrorist wird!« oder auch »Ach, das Kind lernt Schwedisch, das ist ja schön! Die Schweden können eh so gut mit Kindern, haben ja
die ganzen Bildungsstudien gezeigt, hat man aber auch an der Atmosphäre in dem Land gemerkt, als wir dort im Urlaub waren!« Es gibt keinen. Es sind »die Araber«, »die Anzugsträger«, »die Tierheimhunde«, »die Vollzeitmamis« etc.
Ich denke, man muss sich einfach zwingen. Sich der Vorgänge, die da in einem stattfinden, bewusst zu sein, bewusst zu werden. Ich zwinge mich. Zwinge mich, mich an spannende Begegnungen zu erinnern, sogar an gute Freunde, von denen ich anfangs sicher war, dass sie … Zwinge mich, an eine gute Freundin zu denken, deren beide Hunde nicht nur reinrassig, prämiert und sonst was sind, sondern auch fast jedes Wochenende an einer Show oder einer Prüfung teilnehmen, während mein Hund und ich im dritten Jahr das Kommando »Bring’s« üben. Ohne die Ratschläge und Hilfe dieser Freundin wäre mein Hund nicht der brave Hund (abgesehen von der Ball-Sache), der er heute ist. Ich zwinge mich, Tag für Tag. Zwinge mich zu differenzieren, »Stopp« zu den Bildern, den Verallgemeinerungen in meinem Kopf zu sagen, mir darüber klarzuwerden, was an Pauschalisierungen darin abläuft. Die Situation und die Menschen wahrzunehmen, die ich tatsächlich sehe und erlebe, nicht die in meinem Kopf.
Es wird besser, bis ein neues Thema hinzukommt, eines, das mich beschäftigt, eines, über das ich Bescheid zu wissen meine. Und dann zwinge ich mich erneut und freue mich an den Erfahrungen, die ich machen darf, weil ich Pauschalisierungen vermieden habe. Vielleicht ist der Mensch niemals fehlerfrei, aber er ist verbesserlich. Verbesserlich im Gegensatz zu unverbesserlich, auch wenn das Wort so nicht im Duden steht.
Unsere Köpfe sind voll von Bildern. Sie variieren von Kopf zu Kopf, manchmal auch von Tag zu Tag im selben Kopf, sie ähneln oder widersprechen sich, aber sie tauchen auf, ungebeten,
ob man will oder nicht. Sie ist Russin: Sie hat mit Mafia zu tun – sie liest Dostojewski – sie hat lange Fingernägel – ihr ist Bildung wichtig – sie weiß nicht, was Demokratie ist. Sie hat einen Hund: einen dreckigen Hund – einen süßen Hund – er hinterlässt überall Haare – sie kann mit ihm spielen – in ihrem Kühlschrank wird Dosenfutter stehen – sie mag keine Katzen – der Hund bringt vielleicht die Zeitung. Sie ist Mutter: Kinder sind das Schönste auf der Welt – sie redet bestimmt seit der Geburt des Kindes nur noch über Windelinhalte – sie hat schlaflose Nächte – Kinder zu haben ist ein Geschenk – Arbeiten ist da wohl nicht mehr drin – sie verbringt ihr Leben auf dem Spielplatz – ach, das würde ich gerne mal sehen, das kleine Würmchen. Sie lebt in München: Schickeria-Tussi – sie hat es schön nah in die Berge – sie spricht Bayerisch
Weitere Kostenlose Bücher