'Sie können aber gut Deutsch'
Auch er kam damals, um zu helfen, er lernte mit meinem Vater Deutsch, er erzählte viel, wie die Dinge in Deutschland laufen, hauptsächlich im Schwabenland, er brachte uns unseren ersten Weihnachtsstollen, wer in Deutschland lebt, müsse Weihnachtsstollen kennen, er schenkte mir ein paar
Reclam-Hefte, Lessing und Goethe, ich müsse die deutschen Dichter kennen; ich kannte die Bücher bereits. Gealtert ist Herr O. seit meinen Wohnheimtagen, sind ja auch beinahe zwanzig Jahre seither vergangen. Herr O. weicht mir nach der Lesung nicht von der Seite, und so fühle ich mich nach einer Viertelstunde verpflichtet, ihn der Veranstalterin neben mir vorzustellen.
»Das ist Herr O., ein Bekannter meiner Eltern«, sage ich, und die Veranstalterin will ihm die Hand schütteln, aber er schaut mich erwartungsvoll an. Ich blicke auf den Boden, wohl wissend, was jetzt kommt, nur nicht in welcher Form, da sagt er: »Jetzt erzählen Sie mal, woher ich Ihre Eltern kenne!«, bis ich gezwungen bin zu sagen: »Herr O. hat mit meinem Vater Deutsch gelernt, als wir gerade in Deutschland angekommen waren«, und als die Veranstalterin ein bewunderndes »Oh, das ist ja schön!« von sich gibt, ist Herr O. endlich zufrieden und strahlt und schaut sich stolz um, haben das auch alle gehört?
Und ich würde am liebsten wortlos den Raum verlassen.
Wer etwas tun will, spricht davon, dass man aufeinander zugehen, Brücken schlagen sollte zu den ausländischen Mitbürgern, Toleranz zeigen gegenüber fremden Kulturen, etwas bewegen, Dialoge führen gerade mit Menschen mit fremden Mentalitäten, Menschlichkeit zeigen gegenüber jenen, die aus ihrer Heimat geflohen (am liebsten: vertrieben worden) sind. Wer etwas tun will, sagt Sätze wie »Ich persönlich engagiere mich/bringe mich ein im Bereich multikulturelle Gesellschaft, denn zwischenmenschliche Kommunikation, auch innerhalb verschiedener Kulturkreise, halte ich für eine wichtige Voraussetzung.«
Wer etwas tut, der muss gar nichts sagen. Wer nicht über seine Hilfe redet, der hilft. Wer ehrlich ist, wird höchstens von
den Menschen erzählen, die er kennenlernt, weil er sie spannend findet, interessant, bereichernd oder einfach nur nett.
Vielleicht reicht das auch an Engagement. Vielleicht muss man nicht wortgewaltige Vorträge besuchen, nicht unbedingt Organisationen und der Völkerverständigung dienenden Freundschaftsverbänden beitreten, sich nicht offiziell der multikulturellen Arbeit verschreiben. Es reicht schon, Menschen kennenlernen zu wollen. Keiner auf der Welt, der sich nicht über ein ehrliches Interesse an seiner Person freut. Keine bessere Art, »Du bist hier willkommen« zu sagen, als die Frage »Wer bist du eigentlich? Ich will dich gern kennenlernen.«
Großartig, dass beinahe jeder Dritte in unserem Land ehrenamtlich tätig ist. Großartig, dass es Organisationen wie Refugio oder Projekte wie »Großer Bruder – Große Schwester« gibt. Ein großer Dank gebührt all denjenigen, die sich Zeit nehmen, sie zu unterstützen. Vielleicht muss man sich aber nicht unbedingt im Sinne dieses Wortes engagieren, denn Zeit ist heutzutage ein seltenes Gut, und Zeit für soziales Engagement vielleicht noch rarer. Aber Zeit, um auf Menschen zuzugehen, sie wahrzunehmen, sich für sie zu interessieren, von mir zu dir, auf gleicher Höhe, die hat man immer. Jeder von uns.
Was nun?
Ob ich diejenigen verleugnen würde, werde ich gefragt, diejenigen, über die alle sprechen, die, die seit vielen Jahren hier leben, aber kein Deutsch sprechen, nicht arbeiten wollen, im Übrigen von unserem Geld hier leben, von unserem Sozialstaat, den sie vielleicht noch nicht einmal als den ihren akzeptieren? Ob ich die Augen vor der grausamen Realität verschließen würde in meiner sozialromantischen Welt? Mit großer Sicherheit nicht! Weil ich sie nicht nur nicht verleugne, sondern sie auch kenne, mit ihnen aufgewachsen bin. Ich wurde von meinen Eltern geprägt, die seit ihrer Ankunft in Deutschland an keinem einzigen Tag Arbeitslosengeld oder ähnliche Beihilfen erhalten haben, sich direkt vom Sprachkurs auf den Weg in die jeweiligen Umschulungen machten, wo sie nach und nach von Akademikern zu einfachen Arbeitern umgeschult wurden, um dann bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter durchzuarbeiten, selbstverständlich unterhalb ihres intellektuellen Niveaus, weil ihre aus der Sowjetunion stammenden, zahlreichen Diplome hierzulande nicht anerkannt wurden. (Ein Problem im Übrigen, das viele Zuwanderer
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