"Sie koennen aber gut Deutsch!"
in der Pubertät ist. Man kann anschlieÃend darüber sprechen, was nun â unbeabsichtigterweise â entstanden ist, vielleicht lernt der Junge dann (ja, dann!) ein bisschen mehr, zwischen den Zeilen zu lesen, vielleicht sogar das eine oder andere Synonym zu »dann« zu verwenden. Und ich lerne ganz gewiss, wie Denkprozesse und Sätze und Stilmittel auch funktionieren können, und fühle mich, als hätte ich eine Konsultation bei einem »echten Schriftsteller« gehabt.
Und dann, um diesen »echten Schriftsteller« zu zitieren, kann es einem passieren, dass man in einem Vortrag zum Thema »Kreatives Schreiben mit Schülern mit Migrationshintergrund« sitzt und sich innerlich bereits über den Titel des
Themas aufregt, denn kreatives Schreiben ist kreatives Schreiben, egal mit wem, das sage ich als »echte Schriftstellerin« jetzt mal so, und sich dann noch Folgendes anhören muss: Dass es besser ist, solchen Schülern, also denen mit diesem groÃen Makel, diesem unsäglichen Migrationshintergrund, vorgefertigte Gedichtzeilen aus grammatikalisch korrekten deutschen Sätzen vorzulegen, die sie jeweils ein wenig ergänzen können, indem sie hier mal ein Adjektiv hinzufügen, dort mal ein Akkusativ-Objekt (und wie viele von uns wissen noch, was genau ein Akkusativ-Objekt ist?) ⦠So lernen die Kinder trotz ihres Migrationshintergrundes vielleicht endlich richtiges Deutsch. Vielleicht tun sie das, kreativ sein, schreiben lernen sie so aber mit Sicherheit nicht.
Und warum das alles, warum diese Geschichten? Weil es immer wieder schockierend ist zu beobachten, was für Erwartungen in diesem Land beim Thema Sprachkenntnisse herrschen. Erst einmal vorweg: Ja, auch ich finde, wer in diesem Land lebt, wer zu diesem Land gehört, wer zu diesem Land (wirtschaftlich) beiträgt, wer Teil des Landes ist, muss die deutsche Sprache können. Nicht beherrschen, sondern können. Die Definition von »können« variiert, sie darf, sie muss auch variieren, weil wir unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Fähigkeiten, Lebensläufen, Lernmöglichkeiten, auch Ansprüchen sind. Und das ist im Ãbrigen gut so. Wie viel Deutsch muss meine GroÃmutter können, die mit 75 Jahren hierherkam, zu alt, um hier noch zu arbeiten? Sie ging gerne und viel spazieren und lernte bei ihren Spaziergängen im Wäldchen nebenan andere ältere Leute kennen, mit denen sie sich teils auf Jiddisch, teils mit Händen und FüÃen, teils durch ein freundliches Lächeln unterhielt. Reicht das nicht, muss sie Goethe im Original lesen können? Sie hat ihn auf Russisch gelesen, sie hat Faust gelesen, was schon mehr
ist, als viele Ursprungsdeutsche von sich sagen können. Meine Eltern hingegen, die im Alter von 52 und 46 Jahren den Schritt der Auswanderung gewagt haben, und wagen ist hier wirklich der richtige Begriff, haben hier nicht nur seit ihrer Ankunft gearbeitet, also Steuern bezahlt, sondern immerhin so viel Deutsch gelernt, dass sie sich auch in einem deutschen Freundeskreis bewegen, eine seriöse deutsche Tageszeitung abonnieren und möglicherweise zu den gröÃten Patrioten gehören, die dieses Land je haben wird. Ich bin in den letzten Jahren nicht mehr viel mit meinen Eltern unterwegs gewesen, aber fast jedes Mal, wenn ich es war, konnte ich, wenn sie auf andere Menschen trafen â Kellner, Verkäufer, Sitznachbarn im Zug, wen man im Alltag eben so an Fremden trifft â, etwas spüren, was mir nicht behagte, was zu benennen mir schwerfällt. Es ist nie etwas vorgefallen, etwas, das man als eine ausländerfeindliche Handlung bezeichnen könnte. Es ist einfach die Art, der Tonfall, in dem zum Beispiel die Schuhverkäuferin reagiert, wenn meine Mutter sie um eine andere GröÃe bittet. Es steckt zwischen den Zeilen, es lässt sich nicht beschreiben, schon gar nicht festhalten, aber es tut weh. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Hätte ich in meinem akzentfreien Deutsch nach einer anderen SchuhgröÃe gefragt, wäre ich freundlicher, zuvorkommender, respektvoller behandelt worden; das ist das Gefühl, das bleibt. Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, um mal eine abgegriffene Metapher zu verwenden, in mir den Wunsch weckt, nach dem Schuhkauf im Café den Kaffee für alle bestellen zu wollen, weil ich akzentfrei Deutsch spreche, weil ich damit so gut
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