"Sie koennen aber gut Deutsch!"
Muttersprachler nicht, da man den Wortschatz immer wieder erweitert. Ich zum Beispiel habe vor ein paar Wochen das Wort »Stollen« gelernt, nicht im Zusammenhang mit Weihnachten, sondern im Zusammenhang mit Schuhen, FuÃballschuhen. Ich lernte es während eines Spiels mit Freunden, bei dem man die zu erratenden Begriffe zeichnen musste, und ich bekam »Schuhstollen« als Begriff und wusste nicht weiter, was den Sohn unserer Freunde schockierte und mich in seinen Augen wahrscheinlich herabsetzte. Ich bin ein Mädchen, ich spiele nicht FuÃball, meine Söhne sind zu klein, um FuÃballschuhe haben zu wollen, der Begriff und ich, wir sind uns bisher nicht über den Weg gelaufen, ich hätte bis zu diesem Zeitpunkt die Stollen als »die Dinger an den FuÃballschuhen« bezeichnet, wäre das ein Problem gewesen? Oder nicht, weil ich »die Dinger an den FuÃballschuhen« akzentfrei aussprechen kann? Wo beginnt Deutsch können? Soll ich mir wieder Vokabelkärtchen schreiben, wie damals in der Schule im Lateinunterricht? Werden mir meine Autorenpreise nun aberkannt? Ich merkte mir »Schuhstollen«, speicherte das Wort im Kopf bewusst ab, so wie ich das in meiner Anfangszeit in Deutschland täglich mehrmals getan habe. Mein zweiter deutscher Satz hieÃ: »Ich möchte mit deutschen Kindern Freundschaft halten.« Den Satz hatte ich direkt aus dem Russischen mithilfe eines sowjetischen Wörterbuchs übersetzt. Ich war wild entschlossen, Deutsch zu lernen und deutsche Freunde zu
finden. SolchermaÃen sprachlich ausgerüstet, machte ich mich auf den Weg zum nächstgelegenen Spielplatz. »Ich möchte mit deutschen Kindern Freundschaft halten. Ich spreche Deutsch, aber nicht sehr gut«, erklärte ich den Kindern, die schaukelten und auf Klettergerüsten herumturnten. Sie zeigten keinerlei Interesse an mir, und in meiner Verunsicherung zog ich mich zurück auf die Wiese, auf der mein Bruder mit ein paar neuen russischsprachigen Bekannten sprach. Was ich hier machen würde, wollten sie wissen, ich war jünger und hatte dort nichts zu suchen. Ich wolle mich mit deutschen Kindern anfreunden, erklärte ich und zeigte auf den Spielplatz. »Das sind doch Türken, gar keine Deutschen!«, lachte mich einer von ihnen aus.
Eine Sprache zu lernen ist ein Prozess, der seine Zeit braucht, das ist nun einmal so. Ich las die Verpackungen von Lebensmitteln und fand langsam heraus, dass Spaghetti, Tortellini, Fusili und Rigatoni Nudeln sind. Ich achtete darauf, wann genau die Menschen »ade« sagten, sie schienen es anstelle von »tschüss« einzusetzen, das ich schon kannte; das merkte ich mir. Was ich nicht einzuordnen wusste, aber öfter hörte, versuchte ich im Wörterbuch zu finden, was nicht einfach war, weil ich ja meistens nicht wusste, wie man das Gehörte buchstabierte. Mein Grundschullehrer begann seine Sätze gerne mit einem »und zwar«, ich suchte im Wörterbuch danach und fand es nicht â ich buchstabierte es als »uns war« und war verwirrt, weil »uns war« am Anfang eines Satzes keinen Sinn zu ergeben schien. Nach einer Weile sprach ich scheinbar problemlos Deutsch, ich war ja auch noch ein Kind von noch nicht einmal zwölf Jahren, während die Maschinerie in meinem Kopf niemals stoppte: Ich sammelte Redewendungen, sog Aussprachen in mich ein, übte zuhause den Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen. Mein schwierigstes
Wort war »Ofenkartoffel«, weil ein kurzes »O« auf ein langes folgt. Mein Bruder, der schon älter war, nahm an einem Sprachkurs der Otto-Benecke-Stiftung in einer anderen Stadt teil und zog bei uns aus; wenn er uns besuchte, erzählte er, dass sein Mitbewohner und er sich in der Wohnung das Russischsprechen verboten hätten, weshalb sie nun auf den Balkon gingen, wenn ein längeres oder komplizierteres Gespräch zu führen war. Eine Freundin hatte jahrelang an jeden Gegenstand in ihrem spärlichen Zimmer, sogar an manche Besteckteile und die Zahnbürste kleine Zettelchen gehängt, auf denen der deutsche Begriff dafür stand. Sprachenlernen ist ein Prozess, ein Prozess, der einigen leichter und anderen schwerer fällt, ein Prozess, für den man nicht immer Zeit hat.
Die Einwanderung nach Deutschland begann mit dem Anwerbeabkommen von Arbeitskräften in den sechziger Jahren. Deutschland lud Gastarbeiter ein, aber die Gastarbeiter, die nach
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