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"Sie koennen aber gut Deutsch!"

"Sie koennen aber gut Deutsch!"

Titel: "Sie koennen aber gut Deutsch!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Schreibblockseite mit krakeliger Füllfederhandschrift gefüllt, er handelte vom Tod. Wer gestorben war, ging aus dem Text nicht hervor, ich dachte, es könnte vielleicht die Mutter sein, der Text klagte nicht, er stellte keine Fragen, er war frei von verbrauchten Assoziationen wie Leere und Dunkelheit und Warum und Einsamkeit und Danach. Mir liefen beim Lesen Schauer über den Rücken, und ich machte das Fenster zu. Es war nicht kälter geworden.
    Am nächsten Tag fragte ich den Klassenlehrer in der Pause diskret, wer die Verfasserin dieses Textes sei. Er rief das Mädchen beim Namen, an den ich mich heute nicht mehr erinnern kann, sie löste sich aus der Gruppe ihrer Freunde und stellte sich zu uns, und nachdem ich kurz gesagt hatte, dass ich den Text beeindruckend fand, meldete sich auch ihr Klassen- und Deutschlehrer zu Wort, der ja schließlich für ihre Bildung zuständig war, auch er wollte Feedback geben. Sein Feedback bestand in der Aufzählung mehrerer Rechtschreib-, Grammatik- und Zeichensetzungsregeln und dem ausführlichen Hinweis darauf, dass man, um schreiben zu können, erst einmal die deutsche Schriftsprache perfekt beherrschen müsse, wovon sie, die junge Autorin, der dieser Titel mit dieser Predigt mit einer Bestimmtheit aberkannt wurde, die mich schockierte,
noch ziemlich weit entfernt sei. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut seines Vortrags, umso genauer aber an den der Antwort des Mädchens, die sie mir entgegenwarf, als ich ihr, nachdem der Lehrer enteilt war, um andere Kinder wegen irgendetwas zu ermahnen, noch einmal sagte, dass das Wichtigste doch sei, dass sie überhaupt schrieb. Dass ich fände, dass sie Talent habe und weiter schreiben sollte, wenn auch nur für sich. Ihre Antwort lautete: »Ich kann nicht schreiben, ich bin doch nur Ausländerin.«
    So einfach vernichtet man kleine Autoren.
    Ich habe viele solcher Schreibwerkstätten mitgemacht, in vielen Schulen aus meinen Romanen vorgelesen. Ich habe Lehrer erlebt, die ihre Schüler schon im Vorfeld niedermachten (»Sie wissen ja, wir sind eine Hauptschule hier, die können mit Büchern und Literatur und Schreiben eh nichts anfangen, die können ja noch nicht einmal richtig Deutsch.«). Ich habe aber auch – leider seltener – Lehrer erlebt, die ihre Schüler ermunterten, sich deren Geschichten anhörten, ihnen beim Niederschreiben halfen, kleine Bücher mit ihnen herausgaben. Ich habe sogar eine Lehrerin erlebt, die zu mir sagte: »Ich habe viel, auch sprachlich, von meinen Schülern gelernt.« Ein Satz, der überraschend klang, weil ich spontan dachte, dass er in dem hiesigen Bildungssystem nicht vorgesehen ist.
    Ich selbst habe gelernt, dass aus an der einen oder anderen Stelle fehlenden oder aus Duden-Sicht falschen DeutschKenntnissen wunderschöne Sprachbilder entstehen können. Dass Texte auf Deutsch häufig berührender sind, wenn sie mithilfe anderer Sprachen geschrieben wurden. Dass sich beispielsweise ein Apfel besser beschreiben lässt, wenn man kurz die Augen schließt, das Wort »Apfel« in eine andere – vielleicht die Muttersprache – übersetzt, laut ausspricht und merkt, dass ein ganz anderer Apfel vor dem inneren Auge
auftaucht als der, den man normalerweise in der Obstauslage eines deutschen Supermarkts sieht. In meinem Fall sehe und beschreibe ich dann kleine, weiße, beim Reinbeißen saftigtriefende Äpfel, die direkt unter einem Apfelbaum liegen, wie ich sie noch von unserer Datscha in Russland in Erinnerung habe. Ich habe gelernt, dass aus anderen Sprachen übersetzte Metaphern und Bilder, die auf Deutsch erst einmal holprig oder sogar falsch klingen, Texte interessanter machen. Dass Denkweisen, die sich von unseren, im Laufe der Jahre angeglichenen unterscheiden, zu neuen stilistischen Mitteln führen. Wenn zum Beispiel ein Junge schreibt: »Am Dienstag war ich Schlittschuhlaufen, und dann hatte ich einen Pickel, dann war ich vierzehn und dann in der Pubertät«, und der Saal bei der Abschlusslesung einer solchen Schreibwerkstatt lachen muss. Die Aufzählung war, wie wir im Gespräch herausfanden, nicht als kunstvolles, literarisches Stilmittel gemeint gewesen, sondern aufgrund fehlender Aufzählungswörter-Alternativen so entstanden, vielleicht auch, weil in einem Jungenkopf von zwölf Jahren Prozesse so ablaufen: Und dann und dann und dann, bis man

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