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Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Titel: Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine Roux
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keine gute Einführung. So bin ich eigentlich nicht.
    »Haben Sie … ist hier jemand mit dem Namen Hewitt aufgetaucht? Lynn Hewitt? Sie ist ungefähr so groß wie ich, in den Fünfzigern, hübsch?«
    »Ich glaube nicht«, sagt er, »aber ich kenne nicht jeden, der hier durchkommt. Ist sie Ihre Mutter?«
    »Ja.« Ich kann meine eigene Stimme kaum hören, etwas übertönt sie. Meine Kehle ist so fest zugeschnürt, dass es große Anstrengung erfordert, genug Luft zum Atmen hindurchzupressen. Meine Knie zittern, aber ich halte mich auf den Füßen, den Kopf zu Boden gebeugt, die Augen abgewandt.
    »Das ist keine Schuld«, murmelt er, und ich nehme den sanften Rhythmus seiner Stimme wahr, denselben Klang, der aus dem Lautsprecher des Radios floss wie ein Geist der Kindheit.
    »Was?«
    »Es ist nicht Schuld, was Sie da gerade fühlen. Es ist nur ein Schock.«
    »Oh.«
    »Es gibt einen wichtigen Unterschied: Schock verschwindet wieder. Schuld, fürchte ich, nicht.«
    »Und Sie wissen das woher?«
    »Lassen Sie es uns persönliche Erfahrungen nennen, ja?«
    Ich lächle nicht, wie er es gerne hätte. Sein Gesicht von der Ausdruckskraft einer funkelnden, antiken Gürtelschnalle verwandelt sich schnell in eine freundliche Grimasse.
    »Sie haben einen Mann umgebracht«, sagt er, »das rührt die Seele zu Tränen. Aber es sind nur Tränen, Allison, und Tränen können trocknen.«
    »Bleiben Sie doch bei den Klassikern, ich komm schon mit mir klar.«
    »Ich sehe, Finn hat nicht übertrieben, was Ihren gewinnenden Charme angeht«, antwortet er. In seiner Stimme liegt eine Schwingung, die Andeutung eines Lachens. »Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie mich nicht ins Bockshorn jagen können. Ich habe über viele Jahre Alleswisser und Genies wie auch Idioten ihres Alters unterrichtet. Nichts kann diesen alten Mann noch überraschen.«
    »Sie sind Professor?«, frage ich und bewege mich zentimeterweise auf die Tür zu.
    » War Professor, ja, für Astronomie.«
    »Ein Professor für Astronomie mit Wagenladungen voll Waffen?«
    »Wir haben alle unsere Hobbys.«
    Ted ist jetzt bei mir. Sie haben uns warmes Essen und Kamillentee und altbackene Kekse gegeben. Um seine Brille steht es schlecht – das eine Glas fällt fast heraus –, aber ansonsten ist er unverletzt. Es ist gut, meinen Freund wiederzuhaben, seine Augen leuchten zu sehen unter dem Mopp aus schwarzen Fransen.
    Wir befinden uns in einem Dorf aus Zelten auf dem Sportplatz. Collin hat es fertiggebracht, uns eins davon zu sichern. Collin schätzt, dass etwa hundert bis hundertfünfzig Leute hier sind, und sagt, es träfen täglich mehr ein. Dapper könnte nicht glücklicher sein. Er scheint die andere Hälfte seines Schwanzes nicht zu vermissen, und ich genieße seinen ungebrochenen Enthusiasmus. Er riecht ein bisschen nach Holzhohle und Chemikalien, aber wir haben Erlaubnis, ihn morgen zu baden. Die Generatoren hier erzeugen so viel Strom, dass sie es geschafft haben, ein paar Durchlauferhitzer zu betreiben und Duschen mit Handpumpen aufzuhängen.
    Ted schläft fast. Seine Formelrezitationen sind zu einem unzusammenhängenden Gemurmel degeneriert. Ich will auch schlafen, ich will mich so verzweifelt ausruhen und vergessen, aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Janette vor mir. Ich sehe Phil, Matt und sogar Zack. Ich will nicht bereuen oder hassen, sondern einfach jene Person sein, die ich war, bevor das alles losging: Allison Hewitt, graduierte Studentin der Literatur, Faulkner-Liebhaberin, Feldhockeyspielerin, Tochter, ein ganz normaler Mensch.
    Diese Titel existieren nicht mehr. Collin ist kein Professor mehr, Ted kein Biochemiker mehr, und ich bin nur eine Überlebende. Ich weiß nicht mal, wer Zack war, was er geliebt hat, wer er in seinem früheren Leben gewesen ist. Er hat mir erzählt, er habe als Koch gearbeitet, sei Ski gelaufen, habe Golf gemocht und sich um ein Referendariat bei einem Umweltmagazin beworben. All dies kann wahr und genauso gut gelogen sein.
    Collin sagt, ich sollte nicht bereuen, was ich getan habe. Er meint, es werde nur ein paar Tage weh tun, ein paar Wochen. Ich glaube, er irrt sich. Es wird für immer weh tun. Dieser Stachel wird alles Mitgefühl und alles Verständnis überdauern und bei mir bleiben, bis ich entweder jemand anderes geworden oder gestorben bin.
    Doch das Schlimmste von allem: Meine Mutter ist nicht hier. Ich habe sie gesucht, aber ich hätte es nicht gemusst: Ich kann es fühlen. Sie ist da draußen,

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