Sie nennen es Leben
stärker von dieser Entwicklung profitieren würden als die breite Masse.
Im Verlauf der vergangenen vierzig Jahre haben sich Bells Thesen weitgehend bestätigt. In den hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens ist der Dienstleistungssektor stark gewachsen, während der so genannte industrielle Sektor geschrumpft ist. Nach Berechnungen des Arbeitskreises Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder sind in Deutschland seit 1991 rund drei Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verlorengegangen, während in derselben Zeit im Dienstleistungssektor über sechs Millionen neue Stellen entstanden sind.
Diese Entwicklung ist aber noch nicht abgeschlossen: Die aktuelle Studie » Wer gewinnt, wer verliert? Globalisierung und Beschäftigungsentwicklung in den Wirtschaftsbranchen « der Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass der Bedarf an Akademikern weiter steigen wirdâ geschätzt wird ein Bedarf von einer zusätzlichen Million in den kommenden zehn Jahren. Gefährdet seien hingegen Arbeitsplätze, die durch routinemäÃige, manuelle Tätigkeiten geprägt sind. Davon würden laut Studie bis 2020 rund 800 000 wegfallen. Ãber die individuellen Zukunftsaussichten und die Arbeitsplatzsicherheit entscheide dabei immer mehr der Grad der Qualifizierung. In allen Karrierestufen wachse der Zwang zur Fortbildung und Entwicklung, schreiben die Autoren der Studie. Das gelte insbesondere für Menschen mit keinem oder einem einfachen Berufsabschluss.
Nun ist die Bertelsmann-Stiftung dafür bekannt, zum Wirtschaftsliberalismus zu tendieren und für mehr Eigenverantwortung zu werben. Doch der Ansatz, dass Menschen für ihre Bildungs- und Karrierechancen individuell verantwortlich sind, ist keine isolierte Forderung, sondern ein Merkmal der Wissensgesellschaft allgemein. Mit dem Schlagwort » lebenslanges Lernen « wird der Druck zur ständigen Fortbildung auch jenseits wirtschaftspolitischer Grabenkämpfe formuliert. Unter der aktuellen Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan heiÃt » lebenslanges Lernen « zwar jetzt etwas missverständlich » Lernen im Lebenslauf « , es meint aber dasselbe: » Wissen sowie die Fähigkeit, das erworbene Wissen anzuwenden, müssen durch Lernen im Lebenslauf ständig angepasst und erweitert werden « , steht auf der Homepage des Ministeriums. » Nur so können persönliche Orientierung, gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit erhalten und verbessert werden. «
Die Forderung nach lebenslangem Lernen hat dabei radikalere Auswirkungen, als es auf den ersten Blick erscheint. Tatsächlich beinhaltet sie auch die Entwertung von formalen Qualifikationen wie Schul- oder Berufsabschlüssen. Ein Handwerk gelernt oder die mittlere Reife gemacht zu haben, gilt mittlerweile nur noch als eine von vielen QualifikationsmaÃnahmen, die man für eine möglichst stabile Berufskarriere leisten muss. Lernen findet damit nicht mehr vorrangig in den Schulen und Ausbildungsstellen statt, wo Lehrpläne und Prüfungen für weitgehend einheitliches Wissen sorgen. Stattdessen verlagert sich Lernen immer mehr in den privaten Verantwortungsbereich, woâ nach den Worten des Bildungsministeriumsâ neben der persönlichen Beschäftigungsfähigkeit auch die gesellschaftliche Teilhabe gemanagt werden soll.
Schüler mit höherem Bildungsgrad können sich diesen Entwicklungen doppelt gut anpassen. Zum einen stehen ihnen mit der Hochschulreife die Universitäten offen und damit später die expandierenden Arbeitsfelder für Akademiker. Zum anderen hilft ihnen ihr soziales und kulturelles Kapital dabei, über wandelnde Anforderungen an Arbeitnehmer auf dem Laufenden zu bleiben. Wenn sich Informationen zu freien Stellen und Jobprofilen ins Internet verlagern, sind sie die Ersten, die dies erfahren und sich zunutze machen können. Laut der Studie » Recruiting Trends 2010« der Universitäten Bamberg und Frankfurt am Main sowie des Online-Jobportals Monster werden mittlerweile 90 Prozent aller freien Stellen auf den Unternehmensseiten, 60 Prozent auf Internetbörsen und nur noch knapp 20 Prozent aller Stellen in Printmedien inseriert. Ein kompetenter Umgang mit dem Internet übersetzt sich damit fast direkt in bessere Job-Aussichten.
Hinsichtlich des sozialen Zusammenhalts in Deutschland sind diese Entwicklungen bedenklich. Im
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