Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sie nennen es Leben

Titel: Sie nennen es Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Pilarczyk
Vom Netzwerk:
aber in dieser selbst gewählten Öffentlichkeit fühlt sich Leo wohl.
    Ab und zu kriegt er Freundschaftsanfragen von Unbekannten, manchmal aus Australien, vor allem aber aus den USA. Diese Facebook-User sind aber nicht auf der Suche nach einem fragwürdigen Kontakt zu einem 13 -Jährigen: Zum einen hat Leo sein Alter gar nicht angegeben. Vor allem hat er aber beim Erstellen seines Facebook-Profils nicht verstanden, dass er die Frage nach seinem Beruf überspringen kann. Deshalb hat er sich überlegt, wo er denn am liebsten arbeiten würde. Seitdem steht in seinem Profil unter » work « : Puma International. Die unbekannten Freundschaftsanfragen kommen alle von Mitarbeitern von Puma International, die online nach Kollegen gesucht haben. Mit einem Kichern lehnt Leo sie ab.
    Abhängen, lästern, flirten, sich verabreden, Quatsch machen: Wenn Jugendliche erzählen, wofür sie soziale Medien wie Facebook oder Instant-Messaging-Dienste nutzen, dann klingt das genau nach dem, was sie auch außerhalb des Netzes– ob auf dem Pausenhof, in Coffee-Shops oder auf dem Spielplatz– machen. Zwischen virtuellen und realen Bekannten wird dabei nicht unterschieden, denn zwischen ihnen gibt es keine Unterschiede. Wie bei Simon gilt für die Mehrheit der Jugendlichen: Online-Freunde sind auch Offline-Freunde. Egal, ob auf dem Schulhof oder auf SchülerVZ, man kennt sich und bleibt am liebsten unter sich.
    Laut aktueller JIM-Studie haben die User von Social Networks im Schnitt 159 Freunde. 94 Prozent sagen, sie kennen alle persönlich. Die Zahl der Online-Freunde liegt erstaunlich nah dran an der » Dunbar-Nummer « . Mit diesem Begriff wird die Menge der Kontakte beschrieben, die ein Mensch noch sinnvoll mit anderen unterhalten kann, ohne den Überblick zu verlieren. Das Konzept dazu stammt von dem Anthropologen Robin Dunbar, der mutmaßte, dass das menschliche Hirn eine Obergrenze hat, mit wie vielen Menschen es zur selben Zeit vertraut sein kann. Dunbar verglich dazu Menschen und Affen und kam zu dem Schluss, dass bei beiden echte soziale Verbindungen vor allem durch gegenseitige Fürsorge entstehen. Bei Affen wird Fürsorge gelebt, indem sie sich gegenseitig den Pelz lausen. Bei Menschen übernehmen persönliche Gespräche diese Funktion. Dunbar beobachtete nun, dass bei Affen die Höchstgrenze von fürsorglichen Kontakten bei rund 55 liegt. Da das menschliche Gehirn wesentlich größer ist, rechnete er diese Zahl anschließend auf Menschen hoch und kam auf 150 – die Dunbar-Nummer. Anthropologisch gesehen, bewegen sich Jugendliche mit ihren durchschnittlichen 159 Kontakten auf Social Networks also im Rahmen des realistisch lebbaren und sind nicht verloren in einem Kosmos der diffusen Bekanntschaften.
    Reine Internet-Bekanntschaften gelten unter Teenagern sogar als minderwertig im Vergleich zu realen Freundschaften. » Seltsam « , » unnatürlich « , » was für Außenseiter « oder » gruselig « sind die Worte, die ihnen dazu am häufigsten einfallen. Freundschaftsanfragen von Fremden akzeptieren die meisten nur, wenn man gemeinsame Freunde hat oder die Aussicht besteht, dass man sich bald kennenlernt, weil man zum Beispiel demnächst auf dieselbe Schule geht.
    Â» Theoretisch bieten soziale Medien Teenagern die Möglichkeit, geografische Beschränkungen hinter sich zu lassen und Kontakte zu neuen Leuten zu knüpfen « , schreibt die US-Ethnografin Danah Boyd. » Aber das ist wissenschaftlich kaum überprüft. « Boyd hat die bislang größte Studie zu Online-Freundschaften verfasst. Für ihre Dissertation » Taken Out of Context « , die auch online frei verfügbar ist, interviewte sie rund hundert Jugendliche zu deren Internetnutzung. » Die für Teenager wichtigsten sozialen Praktiken haben sich durch die Technik nicht gewandelt « , lautet ihr Resümee. » Was sich verändert hat, sind ihre Treffpunkte. «
    Mit anderen Worten: Auf Facebook oder MySpace wiederholen sich die Muster, nach denen Jugendliche auch reale Bekanntschaften machen. Homophilie, die Liebe zum Gleichen, wird dieses Muster in der Soziologie genannt. Es strukturiert einen Großteil unseres Soziallebens, indem wir uns daran orientieren, ob wir mit anderen Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Religion sowie die ethnische und sexuelle Identität teilen. Gleich und gleich gesellt sich gern– eigentlich ist das

Weitere Kostenlose Bücher