Sie nennen es Leben
vergleichsweise klein, dafür sind seine User sehr aktiv. Das liegt auch daran, dass ihnen auf der Plattform ein » Rang « zugeordnet wird. Dieser berechnet sich grob nach der Aktivität eines Users auf der Seite, also danach, ob er viel chattet, mailt oder Gästebucheinträge schreibt. Unter den Usern ist deshalb der Ehrgeiz weit verbreitet, möglichst viele Gästebucheinträge ( » GB « ) zu sammeln, damit sie rangmäÃig aufsteigenâ oft auch mit anzüglichen Motiven und Sprüchen.
Netlog ist ein Social Network, das in Belgien entwickelt wurde. Es ist mittlerweile in 20 Sprachen verfügbar und hat nach eigenen Angaben über 72 Millionen Mitglieder in ganz Europa. In Ãsterreich ist Netlog eines der beliebtesten Social Networks überhaupt. In Deutschland gilt es vor allem als Plattform von Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Das ist womöglich dadurch zu erklären, dass zum Netzwerk auch eine aktive User-Gemeinde in der Türkei gehört. Wie Jappy hat Netlog auch den Ruf, vergleichweise » prollig « zu sein. Das könnte zum einen an den lasziven Profilbildern von weiblichen Usern liegen, die schon auf der Startseite gezeigt werden. Zum anderen ist bei Netlog die Werbung sehr präsent. Unter den Gruppen finden sich auch viele kommerzielle Angebote von » Top-Marken « .
Für solche unterschiedlichen Netzkulturen haben Jugendliche ein feines Gespür. Sie melden sich nur dort an, wo sie die meisten Gleichgesinnten und Gleichgestellten vermuten. Die Abgrenzung online setzt sich aber auch in anderen Bereichen als den Social Networks fort. Die Soziologin Alexandra Klein hat ähnliche Tendenzen unter Usern einer Schülerberatungsplattform im Internet, der etwas irreführend benannten » Kids-Hotline « , festgestellt. Die » Kids-Hotline « bietet Chat-, Foren- und Einzelberatung an, wobei den Usern sowohl gleichaltrige Peer-Berater als auch ausgebildete Pädagogen zur Seite stehen. Offiziell richtet sich die » Kids-Hotline « an alle Kinder und Jugendlichen bis 21 Jahre. Tatsächlich zeigte sich aber im Verlauf von Kleins Untersuchung, dass die Foren von Schülern aus Gymnasien und Realschulen dominiert wurden. Sie berieten sich gegenseitig bei Themen, die von Ferienjobs bis Schul- » Burnout « reichten, und unterstützten sich auch in Sachen Liebeskummer. Hauptschüler hingegen trieben am meisten Zukunftssorgen umâ wie sie Finanzprobleme in den Griff bekommen und Arbeit auch ohne Schulabschluss finden können. Mit einem Anteil von nur sechs Prozent unter allen Usern der » Kids-Hotline « bildeten die Hauptschüler aber eine absolute Minderheitâ und ihre Themen blieben Randthemen.
Letztlich erwies sich also auch ein Forum, das als offen angelegt worden war, als geschlossener Kreis. Wie auf einer Party, auf der ein Gast zu einem lebhaften Gesprächskreis dazustöÃt und unvermittelt anfängt, über ein völlig anderes Thema zu sprechen, zeigten sich die anderen User irritiert angesichts der Geldsorgen der Hauptschülerâ und wandten sich ab.
In solchen Situationen zeigt sich, wie soziales und kulturelles Kapital zusammenspielen: Für die Hauptschüler reichte es nicht aus, » die richtigen Leute « zu kennenâ sprich zu wissen, dass Schüler bei der » Kids-Hotline « Hilfe bekommen können. Indem sie vermeintlich abseitige Themen anschnitten, sprachen sie die richtigen Leute falsch an. Sie konnten das soziale Kapital, das die » Kids-Hotline « mit ihren vielen Usern und professionellen Beratern bietet, nicht aktivieren, weil ihnen das kulturelle Kapital dazu fehlte.
Lernen in der Wissensgesellschaft
Dass sich Schüler online abschotten, ist nicht bloà ein Spiegelbild der bestehenden Unterschiede in Deutschland. Vielmehr werden diese Unterschiede durch die Digitalisierung noch verstärkt. Das hängt zusammen mit dem Wirtschaftswandel, der mit dem Schlagwort » Wissensgesellschaft « umschrieben wird. Als Erster hat der US-Soziologe Daniel Bell 1973 diese Idee von der » post-industriellen Gesellschaft « entwickelt. Er skizzierte eine Wirtschaft, in der sich das Gewicht von der Güterherstellung zur Dienstleistung verschiebt und wissensbasierte Branchen wie Beratung oder Fortbildung die traditionelle industrielle Produktion verdrängen. Als Folge dieses Wandels sagte Bell den Aufstieg neuer technischer Eliten voraus, die deutlich
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