Sie nennen es Leben
eine Binsenweisheit. Für das Internet scheint sie trotzdem nicht zu gelten. Entweder wird das Netz als globaler Treffpunkt gefeiert oder als dunkle SeitenstraÃe, in die man von Fremden reingezogen wird, dämonisiert. Beide Vorstellungen basieren jedoch auf einem veralteten Bild vom Internet.
Warum wir im Internet keine Fremden kennenlernen
Wird über das Internet diskutiert, steht oft im Mittelpunkt, wie es unseren Alltag, unsere Arbeit, unsere Beziehungen und zum Teil auch unser Denken verändert hat. Dabei wird übersehen, dass sich auch das Internet geändert hat. In seiner Urform ist es schlieÃlich schon über 40 Jahre alt. Im Verlauf dieser Zeit hat sich das Internet so entwickelt und verbreitet, dass manche Gründungsmythen im 21 .Jahrhundert einfach keinen Bestand mehr haben. » More is different « , sagt der New Yorker Medienwissenschaftler Clay Shirky dazu. Mehr ist anders: mit dem Durchbruch als Alltagsmedium hat sich der Charakter des Internet grundlegend gewandelt.
Ein Gründungsmythos des Internet war, dass soziale Unterschiede online verwischt würden. Weil man sich nicht sehen und nicht hören könne, würden alle Unterschiede, die im persönlichen Gespräch sofort offensichtlich würden, unbedeutend werden. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und sozioökonomischer Statusâ alles wäre im Internet egal. Ein legendärer Cartoon aus dem » New Yorker « aus dem Jahr 1993 bringt es auf den Punkt. Dort schaut ein schwarz-weià gefleckter Hund einem schwarzen Hund dabei zu, wie der einen Computer bedient. Der schwarze Hund beruhigt den anderen: » Im Internet weià keiner, dass du ein Hund bist. «
Heutzutage kann man ziemlich leicht herausfinden, welcher Hunderasse ein User angehört, wie alt er ist, wer sein Herrchen ist und was seine Lieblingsknochen sind. Das hat nicht nur damit zu tun, dass das Web 2 . 0 Profilbilder und Status-Updates mit sich gebracht hat. Vor allem hat man erkannt, dass das Netz ein Raum ist, in dem man soziale Unterschiede auch jenseits von so offensichtlichen Statussymbolen wie teurem Schmuck oder Designer-Jeans kommuniziert, zum Beispiel mit der Wahl des Social Network, seines Nickname dort oder durch seine Ausdrucksweise.
Dieser Effekt ist mehrheitlich gewünscht, denn im Internet geht der Trend eindeutig dahin, dass man » unter sich « bleiben will.
Man will Kontakt mit seinen Freunden haben und nicht mit Fremden. Man will in seiner eigenen Sprache kommunizieren und Websites in der eigenen Sprache lesen. Nicht zufällig wächst deshalb die Zahl der Webangebote auf Russisch und auf Mandarin so schnell wie in sonst keiner Sprache. Als » Intranet der Japaner, Chinesen etc. « , also als ihr abgeschlossener Kommunikationsraum, hat der holländische Netztheoretiker Geert Lovink das Internet schon bezeichnet.
Chris Anderson, Chefredakteur des Technikmagazins » Wired « und einer der einflussreichsten Netzexperten, stöÃt in dieselbe Richtung, wenn er erklärt: » The Web Is Dead « , das Netz ist tot. In der gleichnamigen » Wired « -Titelgeschichte vom August 2010 zeigt er zusammen mit seinem Co-Autor Michael Wolff, wie begrenzt das Angebot ist, das man mittlerweile vom Netz nutzt. Während die Zahl der Websites weiter explodiert, wählen immer mehr User den direkten Zugriff auf Angebote über Anwendungen, » Apps « (von englisch » applications « ). Filme, Musik oder Bücher werden über bestimmte apps heruntergeladen, immer häufiger durch mobile Geräte wie das iPhone oder einen Tablet-Computer. Dadurch personalisiert sich das Internet. Die groÃe Vernetzungsfunktion des Webs, das einenâ zumindest potenziellâ zwischen tausend verschiedenen Seiten springen lässt und mit neuen Leuten in Kontakt bringt, wird hinfällig.
Dass wir einen immer engeren Ausschnitt vom Internet wählen, liegt darin begründet, dass das Internet zunehmend » starke Bindungen « begünstigt. Unter starken Bindungen verstehen Sozialwissenschaftler den Kontakt innerhalb von Familien und Freundeskreisen. Schwache Bindungen bestehen dagegen zu Bekannten und Arbeitskollegen.
Welche Bindungen in einem sozialen Netzwerk bestehen, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie das Netzwerk funktioniert. Der US-Soziologe Mark Granovetter hat diesen Mechanismus erstmalig 1973 in seinem Aufsatz » The Strength of Weak Ties « (Die Stärke
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