Sie nennen es Leben
sexuelle Aktivität von Jugendlichen fast unverändert und jetzt sogar rückläufig ist « , fasste BzgA-Chefin Elisabeth Pott die Ergebnisse der Studie zusammen.
Sex-Entwarnung statt Sex-Alarm alsoâ und das von hochoffizieller Seite. Dennoch widersprechen sich Siggelkow und die Zahlen der BzgA nicht. Wie steigender Pornokonsum und späteres erstes Mal zusammenhängen, lässt sich mit Hilfe der Entwicklungspsychologie erklären. In Kapitel 2 waren bereits die Entwicklungsaufgaben, die Jugendliche auf dem Weg ins Erwachsenenleben bewältigen müssen, Thema. Zu den Aufgaben gehört auch der Aufbau der Partnerschaftsfähigkeit: Neben eigenem Einkommen und eigener Wohnung gehören Liebesbeziehungen und sexuelle Aktivität zu den wichtigsten Kennzeichen des Erwachsenenlebens.
Heutzutage kommen Jugendliche aber durch die verlängerten Ausbildungszeiten immer später zu Geld und Wohnung. Nach Ansicht der US-amerikanischen Psychologen Marjory Roberts Gray und Laurence Steinberg erhalten Liebesbeziehungen dadurch einen völlig neuen Stellenwert: » In früheren Zeiten standen Heranwachsenden verschiedene Optionen offen, wie sie ihre soziale Reife demonstrieren konnten: Sie konnten ausziehen, in den Arbeitsmarkt eintreten, eine Lehre anfangen oder die Ehe anstreben. Als die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Eltern wuchs, mussten Jugendliche jedoch andere Mittel finden, um sich in den Augen anderer als Erwachsene zu behaupten. Liebesbeziehungen stellen einen statusförderlichen Mechanismus dar, der hilft, gegen die Kräfte in zeitgenössischen Gesellschaften zu bestehen, die jugendliche Abhängigkeit und soziale Unreife verlängern. « Liebesbeziehungen und Sexualität werden für Jugendliche somit zum am leichtesten verfügbaren Mittel, um die Unabhängigkeit vom Elternhaus zu demonstrieren, die ansonsten so stark eingeschränkt ist.
Sexualität muss dabei nicht unbedingt Geschlechtsverkehr meinen. Auf symbolischer Ebene fungiert Pornokonsum nämlich genauso: Er signalisiert eigenständiges Begehren und Wissen darüber, wie man dieses Begehren befriedigen kannâ und sorgt, siehe Siggelkow, für dieselben empörten Reaktionen wie » echter « Sex. Mit dem kann ruhig noch gewartet werden, denn symbolisch hat man ja schon seine Unschuld verloren.
Die Soziologen Mathias Weber und Gregor Daschmann haben für diese Theorie auch empirische Belege gefunden. In einem Onlinefragebogen befragten sie Jugendliche sowohl nach ihren Erfahrungen mit Pornografie als auch nach ihrem Verhältnis zu den Eltern. Das Ergebnis: Jugendliche, die ihre Eigenständigkeit eher gering einschätzen und sich von ihren Eltern kontrolliert fühlen, konsumieren häufiger Pornos als selbstständige Gleichaltrige.
Mit diesem Ansatz lässt sich zumindest teilweise erklären, warum Bernd Siggelkow in seinem Jugendzentrum in Hellersdorf so verstörende Erfahrungen gemacht hat. Er ist auf eine Klientel getroffen, die weder wirtschaftlich noch emotional und sozial besonders eigenständig ist. Das Verhältnis zu den Eltern ist oft schwierig bis grundlegend gestört. » Sex ist das Einzige, was diese Kinder noch haben « , sagt Siggelkow. So wird Sexualität zum überzogen wichtigen Identitätsmerkmalâ und Porno zum Leitmedium. In sozial schwachen Milieus können die ewig willigen Frauen und die dauererigierten Männer aus den Pornofilmen deshalb eine ganz andere Wirkung entfalten und reaktionäre Geschlechterklischees prägen.
Aber auch hier muss man beachten: Pornos machen aus niemandem einen Sex-Gangster. Statistisch lässt sich kein Zusammenhang zwischen Pornografie und sexuellen Gewaltverbrechen nachweisen. Wenn jemand verletzt oder vergewaltigt, kommen so viele verschiedene Faktoren zum Tragenâ von traumatischen Kindheitserlebnissen bis zu gescheiterten Beziehungen im Erwachsenenalterâ, dass sich nicht beziffern lässt, welche Rolle Pornos dabei gespielt haben könnten.
Der britische Soziologe Brian McNair liefert noch ein anderes Argument dafür, warum Pornofilme und Gewalt gegen Frauen nicht miteinander zusammenhängen. Es ist sehr einfach, aber auch sehr überzeugend: McNair hat überlegt, in welchen Ländern auf der Welt Pornos verboten sind. Ihm fallen spontan Iran, Saudi-Arabien oder Teile Indiens einâ also Länder, in denen Frauen oft fundamentale Menschenrechte vorenthalten
Weitere Kostenlose Bücher