Sie nennen es Leben
Wo ein Interesse oder eine Forderung besteht, wird sich mithilfe des Internets immer auch ein Weg finden, um Menschen mit demselben Interesse oder derselben Forderung zu vernetzen. Die Kosten, um diese Gruppe zu etablieren, werden verschwindend gering sein, und die Effizienz, mit der die Gruppe ihr Interesse oder ihre Forderung zum Ausdruck bringen wird, wird ungeheuer groà sein.
Als Beispiel für solche Gruppen, die sich lächerlich einfach organisieren lieÃen, nennt Shirky eine Community auf dem Fotoportal Flickr, die sich spontan nach einer Parade im New Yorker Vergnügungspark Coney Island gebildet hatte. Ohne direkte Aufforderung luden Hunderte Menschen ihre Fotos von dem Tag hoch und schufen so ein Abbild der Parade, wie es eine einzelne Fotografin nicht geschafft hätte.
Ein anderes Beispiel sind für Shirky die Flashmobs, die sich in WeiÃrussland im Frühsommer 2006 über den Bloggingdienst LiveJournal organisierten. Aus Protest gegen den autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der sich in manipulierten Wahlen für eine dritte Amtszeit hatte wählen lassen, verabredeten sich die WeiÃrussen zu scheinbar harmlosen Aktionen: Einmal sollten die Demonstranten Eis essend über den Oktyabrskaya-Platz in der weiÃrussischen Hauptstadt Minsk laufen, ein anderes Mal sollten sie nur lächeln.
Wogegen sollte da die Polizei einschreiten? Gegen Leute, die Eis schlecken oder die einfach nur freundlich schauen? Tatsächlich waren es nicht die einzelnen Handlungen, die das Lukaschenko-Regime provozierten: Es war vielmehr der Umstand, dass sich die Menschen selbstständig und unbemerkt von den Obrigkeiten organisiert hattenâ eine Machtdemonstration, wie sie geschickter nicht hätte ausfallen können.
Aktionen wie die Flashmobs in WeiÃrussland haben seitdem zahllose Nachahmer und groÃes Medienecho gefunden: Chinesische Eltern, deren Kinder im Zuge des Erdbebens von Sichuan in den Trümmern ihrer maroden Schulen umkamen, fanden über Social Networks zueinander und übten gemeinsam Druck auf die Behörden aus, für sicherere Schulgebäude zu sorgen. In Moldawien organisierten sich die Proteste gegen die kommunistische Regierung 2009 über Twitterâ die erste sogenannte » Twitter-Revolution « war vollbracht. Die zweite lieà nicht lange auf sich warten: Als im Sommer 2009 in Iran gewählt wurde und schlieÃlich Ergebnisse bekanntgegeben wurden, die mehrheitlich als gefälscht galten, bedurfte es nur des Schlagworts #iranelection auf Twitter, um den Protest gegen die Machthaber in tagelang anhaltende Massendemonstrationen umzuwandeln.
Spätestens seit den Protesten in Iran gilt Twitter auch hierzulande als revolutionäres Medium, als digitaler Pflasterstein sozusagen. Allein: Jugendliche in Deutschland interessiert das Mikro-Blogging nicht. Nur drei Prozent von ihnen nutzen Twitter.
»Aktivismus ist nichts für Feiglinge«
» Echtzeitkommunikation wird für Jugendliche immer wichtiger « , sagt Christoph Bieber. Der Politikwissenschaftler von der Uni GieÃen beschäftigt sich mit den Veränderungen, die die Digitalisierung für das politische System mit sich bringt. Er ist davon überzeugt, dass die neuen Medien die Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger radikal erweitern und so für einen grundlegenden Wandel der Demokratie sorgen. Warum deutsche Jugendliche kaum twittern oder bloggen, kann er sich nicht recht erklären. In anderen Ländern wie den USA oder Brasilien ist der Mikro-Bloggingdienst unter jungen Menschen ungleich beliebter. » Ich glaube aber nicht, dass das Desinteresse in Deutschland anhalten wird « , sagt Bieber. » Das kann schnell kippen. Hätte Lena Meyer-Landrut zum Beispiel während des Eurovision Song Contest 2010 getwittert, hätten wir einen absoluten Boom erlebt. « Anreize, einem Star auf Twitter zu folgen, hält Bieber für wichtig, um Jugendliche an das Medium heranzuführen. » Dieser Kommunikationsstil muss erst gelernt werden, dann kann die Nutzung umschlagen und die User können sich auch auf politische Inhalte einlassen. «
Während Deutschland noch auf den Twitter-Durchbruch wartet, sind gleichzeitig die Zweifel gewachsen, was das neue Medium überhaupt bewirken kann. Die eindringlichste Kritik kommt von Evgeny Morozov. Der weiÃrussische Politikwissenschaftler, der mittlerweile in den USA lebt und forscht, hat sich
Weitere Kostenlose Bücher